Alles, was wir tun, denken oder fühlen, entsteht aus den Aktivitätsmustern in unserem Gehirn, die von den Verbindungen unserer Gehirnzellen abhängen. Viele Neurowissenschaftler:innen glauben, dass das Verständnis der Gehirnfunktion durch das Kartieren aller Neuronen und Verbindungen des Gehirns – das Konnektom – möglich wird. Dies ist eine unfassbar komplexe Aufgabe, da das menschliche Gehirn mehr als 80 Milliarden Neuronen und 100 Billionen Verbindungen enthält. Das Gehirn der Fruchtfliege hingegen enthält eine Million Mal weniger Neuronen als das menschliche Gehirn. Trotzdem können Fliegen komplexe Verhaltensweisen wie Navigation, Lernen, und soziale Interaktionen zeigen.
In der Zeitschrift „Nature“ beschreiben die Forscher Sven Dorkenwald von der Princeton University (USA), Dr. Philipp Schlegel von der University of Cambridge (Großbritannien) und ihre Kolleg:innen die erste vollständige Kartierung des Konnektoms des erwachsenen Drosophila-Gehirns. Die Forscherin Dr. Katharina Eichler vom Institut für Biologie der Universität Leipzig war Teil des internationalen FlyWire Konsortiums. Das Projekt basierte auf im Jahre 2018 gesammelten Elektronenmikroskopie-Bildern, die mit neuen Bildgebungstechnologien aufgenommen wurden. Das FlyWire-Team entwickelte Methoden zur präzisen Ausrichtung der Bilder und nutzte maschinelles Sehen, um einzelne Neuronen automatisch zu rekonstruieren. Um Fehler zu korrigieren, baute das Team eine computerbasierte Infrastruktur auf, die es Forschenden weltweit ermöglichte, die Neuronen-Rekonstruktionen zu überprüfen. Dieses massive Unterfangen führte letztendlich zum Erfolg: ein vollständiges Drosophila-Gehirn-Konnektom, das etwa 140.000 Neuronen und 54,5 Millionen Synapsen umfasst.
„In den begleitenden Arbeiten konnte ich als Teil des FlyWire-Teams diese einmalige Ressource nun bereits nutzen, um neuronale Schaltkreise zu verfolgen, Hypothesen über ihre Funktion zu generieren und Schaltkreis-Modelle zu erstellen, die auf tatsächlicher Konnektivität basieren“ erklärt Dr. Katharina Eichler. Langfristig könnte dieser wissenschaftliche Durchbruch ein essentieller Schritt sein, um eines der größten Rätsel der Neurowissenschaften zu beantworten: Wie funktioniert ein Gehirn tatsächlich?
„Das Fliegenkonnektom gibt uns Einblicke, wie Informationen im Gehirn verarbeitet und in Verhalten umgewandelt werden. Einige dieser Prinzipien sind wahrscheinlich im menschlichen Gehirn ganz ähnlich organisiert. Außerdem wurden durch dieses Projekt viele Techniken entwickelt und Forschungsfortschritte erzielt, die ein wichtiger Schritt in Richtung des Mauskonnektoms oder vielleicht in einigen Jahren auch des menschlichen Konnektoms sind“, gibt Dr. Katharina Eichler einen Ausblick.
Links zu den veröffentlichten Papern in „Nature“ (an den ersten sechs war Dr.. Katharina Eichler beteiligt):
1. "Neuronal wiring diagram of an adult brain"
2. "Whole-brain annotation and multi-connectome cell typing of Drosophila"
3. Network statistics of the whole-brain connectome of Drosophila
4. Neural circuit mechanisms underlying context-specific halting in Drosophila
5. The fly connectome reveals a path to the effectome
6. A Drosophila computational brain model reveals sensorimotor processing
7. Neuronal parts list and wiring diagram for a visual system
8. Predicting visual function by interpreting a neuronal wiring diagram
9. Connectomic reconstruction predicts visual features used for navigation