Gültekin selbst hat lange in der Provinz Dersim gelebt und gearbeitet, die heute offiziell nur noch Tunceli heißt. Bereits seit den 1930er Jahren gibt es in der Region immer wieder Aufstände gegen die politische Unterdrückung durch die türkische Regierung. Auch die PKK ist hier aktiv. Wer sich für die Interessen der Menschen vor Ort einsetzt, wird schnell als Terrorist gebrandmarkt, auch wenn er wie Ahmet Kerim Gültekin nur mit Worten und Schriften gegen die Mächtigen in Ankara kämpft.
„Hier kann ich endlich wieder frei arbeiten und auch dieses für mich so wichtige Buchprojekt beenden.“
Der 40-Jährige arbeitete an der staatlichen Universität Munzur in Tunceli. Zwei Jahre lang war er hier „Assistant Professor“, dann wurde er vor die Tür gesetzt. In der Türkei hat er mittlerweile Arbeitsverbot, darf laut einer Anordnung vom 6. Januar 2017 Zeit seines Lebens nicht mehr für öffentliche Stellen arbeiten. Um den ständigen Verfolgungen zu entgehen, floh Gültekin im September 2018 nach Deutschland. Er erhält nun ein Philipp Schwartz-Stipendium und forscht seit dem 1. Oktober an unserer Universität in der Kolleg-Forschergruppe „Multiple Secularities“. „Es war nicht einfach, die Türkei zu verlassen. Aber das Risiko war zu groß. Hier kann ich endlich wieder frei arbeiten und auch dieses für mich so wichtige Buchprojekt beenden“, sagt der Ethnologe.
Die Repressalien gegen Ahmet Kerim Gültekin begannen bereits 2012. Er wurde inhaftiert, saß mehrere Monate im Gefängnis. Grund waren seine politischen und akademischen Aktivitäten, Schriften über die Machtkämpfe der regionalen Regierung von Dersim mit der Zentralregierung in Ankara. Seminare, Workshops, Konferenzen, an denen Gültekin teilnahm und die er aktiv mitgestaltete, wurden als „terroristische Operationen“ eingestuft und überwacht, Teilnehmer verfolgt und inhaftiert. Ende 2012 kamen 80 von ihnen in Untersuchungshaft, 32 wurden verurteilt, auch Ahmet Kerim Gültekin. 2013 wurde er aus der Haft entlassen, durfte jedoch nicht mehr an der Universität arbeiten und war arbeitslos. Trotzdem war Gültekin weiter politisch aktiv, schrieb Texte für Zeitschriften über die schwierige Situation der Kurden und die systematische Verfolgung durch die Regierung Erdogans.
Im Januar 2016 war er einer der Unterzeichner der Petition „We will not be a party to this crime“, in der die Verletzung der Friedensrechte in Sur, Silvan, Nusaybin, Cizre und in vielen weiteren Orten durch die türkische Regierung angeprangert wurde. Die Petition forderte „den Staat auf, diese Vernichtungs- und Vertreibungspolitik gegenüber der gesamten Bevölkerung der Region, die jedoch hauptsächlich gegen die kurdische Bevölkerung gerichtet ist, sofort einzustellen.“ Initiiert wurde das Schriftstück von den „Akademikern für Frieden“.
Seit der Veröffentlichung sei alles noch viel schwieriger geworden, erzählt Gültekin. Irgendwann wurde der Druck dann zu groß, und er musste seine Heimat verlassen. „Die Türkei ist mein Land, aber ich wollte nicht wieder zurück ins Gefängnis!“, sagt er. Leipzig soll für ihn nun mindestens zwei Jahre lang der Ort sein, an dem er in Ruhe leben und arbeiten kann. Die Stadt gefällt ihm. Und etwas einfacher ist es nun auch, denn seit kurzem wohnt seine Freundin bei ihm.
Zur Initiative:
Die Philipp Schwartz-Initiative ist nach dem Pathologen jüdischer Abstammung Philipp Schwartz benannt, der 1933 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen musste und die „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ gründete. Die Initiative wurde von der Alexander von Humboldt-Stiftung gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt ins Leben gerufen und ermöglicht Universitäten, Fachhochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Deutschland die Verleihung von Stipendien für Forschungsaufenthalte an gefährdete Forscherinnen und Forscher. Finanziert wird sie durch das Auswärtige Amt, die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die Andrew W. Mellon Foundation, die Fritz Thyssen Stiftung, die Gerda Henkel Stiftung, die Klaus Tschira Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, den Stifterverband sowie die Stiftung Mercator.
In der nunmehr vierten Runde der Philipp Schwartz-Initiative konnten 31 Einrichtungen gefährdete ausländische Wissenschaftler bei sich aufnehmen. Vergeben wurden Fördermittel für insgesamt 35 Forscher, 91 waren zuvor nominiert worden. Ausschlaggebend für die Entscheidung waren laut Humboldt-Stiftung neben der Qualität der Einbindung, der wissenschaftlichen Passung und Qualifikation der Forscher auch die Perspektiven für einen erfolgreichen beruflichen Neustart.
Für unsere Universität ist Ahmet Kerim Gültekin der zweite Stipendiat. In der ersten Runde der Initiative wurde 2016 ein syrischer Veterinärmediziner ausgewählt, der aktuell durch ein Verlängerungsstipendium noch weiter gefördert wird. Er arbeitet in der Gruppe seines Mentors Gottfried Alber, Leiter des Instituts für Immunologie der Veterinärmedizinischen Fakultät.