Herr Dr. Träger, wie bewerten Sie die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz nach der Entlassung von Finanzminister Lindner?
Das war eine impulsive Rede mit sehr scharfen, konkreten Formulierungen. Scholz hat ein ehrliches Abbild der Situation gegeben. Der Bundeskanzler hat nach dem Grundgesetz das Recht, einen Minister zur Entlassung vorzuschlagen. Das passiert aber in der politischen Realität selten. Nach seiner Entscheidung gestern war klar, dass die Koalition auseinanderbrechen wird. Also musste Scholz erklären, warum er eine solch folgenschwere Entscheidung trifft – und das am Tag nach der Präsidentschaftswahl in den USA mit ungewissen Folgen für Deutschland. Es kam auf alle Fälle nicht überraschend. Die Situation hat sich in den letzten Monaten zugespitzt.
Wie schätzen Sie das Agieren Lindners als Finanzminister in den vergangenen Monaten ein?
Lindner hat im Sommer im Koalitionsausschuss zunächst einem Kompromiss zum Haushalt zugestimmt und diesem dann mit zwei von ihm oder seinem Ministerium in Auftrag gegebenen Gutachten widersprochen. Das ist sehr ungewöhnlich. Dann gab es mehrere Gipfel mit Vertretern der Wirtschaft. Der Kanzler und zwei Minister haben ihren jeweils eigenen Gipfel abgehalten. Schließlich hat Lindner in der vergangenen Woche sein Papier zur Wirtschaftswende vorgelegt. Diese Punkte deuten alle darauf hin, dass keine der drei Parteien mehr mit einem Fortbestand der Ampel gerechnet hat. Das sind Szenen einer stark zerrütteten Ehe. Möglicherweise hätte Lindner gern selbst die Reißleine gezogen und war jetzt überrascht, dass Scholz ihm zuvorgekommen ist.
Verkehrsminister Volker Wissing ist aus der FDP ausgetreten und bleibt im Amt. Mit welchen Folgen für die FDP?
Das ist ein herber Dämpfer für Lindner. Wissing hat im Vergleich zu den anderen FDP-Ministern die längste Regierungserfahrung. Vor seinem Wechsel in die Bundesregierung war er bereits fünfeinhalb Jahre Minister und stellvertretender Ministerpräsident der Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz. Er weiß also, dass es in Koalitionsregierungen Kompromisse braucht. Dass Wissing bleibt, zeigt, dass es innerhalb der FDP unterschiedliche Auffassungen zu roten Linien und Kompromissbereitschaft gibt.
Wie könnte eine Minderheitsregierung nun funktionieren?
Wir in Deutschland sind im Gegensatz zu Skandinavien Minderheitsregierungen nicht gewohnt. Es wird schwierig, denn die FDP wird den Vorschlägen der rot-grünen Minderheitsregierung nicht mehr zustimmen. Deshalb kommt es stark darauf an, dass die Union aus staatspolitischer Verantwortung heraus bereit ist, Gesetzen zuzustimmen. Aber vor allem bei der Abstimmung über den Haushalt wird das nicht einfach, denn der ist noch nicht zu Ende verhandelt. Rot-Grün könnte der Union hier noch entgegenkommen. Ansonsten muss bis zur Bildung der neuen Bundesregierung mit einer Art Not-Haushalt operiert werden.
Welche Auswirkungen könnte die nun verkürzte Wahlkampf-Phase haben?
Scholz will am 15. Januar 2025 die Vertrauensfrage stellen. Von der Union könnte die Forderung kommen, dass dies eher geschieht. Der Wahlkampf ist dann sehr zugespitzt und komprimiert. Trotz der Kürze wird es eine große Dynamik geben. Die ehemaligen Regierungsparteien werden erklären müssen, woran sie gescheitert sind und was sie in einer künftigen Regierung anders machen wollen. Es wäre ein Wunder, wenn FDP, Grüne und SPD bei einer Neuwahl auch nur annähernd ihre Wahlergebnisse von 2021 erreichen würden. Bei der FDP mit ihren Umfrageergebnissen von drei bis vier Prozent geht es um das politische Überleben. Sie hat von den drei Ampelparteien am meisten zu verlieren – Mandate und damit verbundene Mitarbeiterstellen.
Wem spielt der Koalitionsbruch am meisten in die Karten?
Die Union ist strategisch in der besten Position. Sie muss staatstragender auftreten als AfD und BSW, hat auch deutlich bessere Startbedingungen als FDP, Grüne und SPD.
Die Fragen stellte Susann Sika.