"Heute gibt es in Deutschland eine klare Unterscheidung zwischen politischer und krimineller Gewalt. Das ist in Lateinamerika schwieriger zu trennen. Erst recht war das im 19. Jahrhundert der Fall, da es kein staatliches Gewaltmonopol gab", erklärt Riekenberg. Damals seien verschiedene politische Gruppierungen wie Milizen, Banden, bewaffnete Landarbeiter oder die Indiobevölkerung gewaltsam gegeneinander vorgegangen. Auch Dörfer führten Kleinkriege gegeneinander. Die Unabhängigkeitsbewegung ist Riekenberg zufolge übergegangen in eine Zeit ständiger innerer Kriege. "Damals hat sich eine neue politische Sprache in der Gewalt durchgesetzt", sagt der Historiker. Begriffe wie "Revolution" oder "Staatsbürger" waren es, die die politische Gewalt in Lateinamerika prägten und diese legitimierten. "Ein Schwerpunkt des Projektes ist die Frage, was Gewalt eigentlich politisch macht", betont Riekenberg. Diese Frage ist auch für das Verständnis von Gewalt in Lateinamerika heute, denken wir an Mexiko, von großer Bedeutung.
Die Argentinierin Agustina Violeta Carrizo de Reimann vergleicht im Rahmen des DFG-Projektes die politische Gewalt im 19. Jahrhundert in Argentinien und Mexiko. Dazu forscht sie in den Nationalarchiven von Buenos Aires und Mexiko-Stadt sowie auf der Halbinsel Yucatan unter anderem in historischen Quellen wie Militärgerichtsprotokollen. "Man kann daraus ablesen, mit welchen Worten sie Gewalt definiert haben und kann sie einordnen", erläutert die junge Wissenschaftlerin, die zu diesem Thema promovieren möchte. In Mexiko, wo Milizsoldaten im 19. Jahrhundert oft zum Schutz vor Bestrafung in die Kirchen geflüchtet sind, habe die Religion eine stärkere Rolle gespielt als in Argentinien. "Die Milizen waren immer halbstaatlich. Der Staat war unter den Gewaltakteuren kein überlegener", sagt Carrizo de Reimann.
Prof. Dr. Riekenberg hat kürzlich unter anderem zu diesem Thema im Campus Verlag das Buch "Staatsferne Gewalt. Eine Geschichte Lateinamerikas von 1500 bis 1930" veröffentlicht. Es wird nun auch ins Spanische übersetzt, damit lateinamerikanische Fachkollegen und Studierende seine Forschungsergebnisse nachlesen können.