Teile der Bevölkerung fühlen sich durch die Corona-Schutzmaßnahmen so bevormundet wie zu DDR-Zeiten. Können Sie das nachvollziehen?
Die Corona-Schutzmaßnahmen werden zurzeit unterschiedlich gedeutet. Es gibt einen kleinen, aber sehr lauten Teil der Bevölkerung in Ost und West, der sich bevormundet fühlt. Diese Menschen äußern ihren Unmut auf der Straße und sind derzeit medial nicht zu überhören. In einigen Städten wurde im Rahmen sogenannter „Spaziergänge“ dabei explizit Bezug auf 1989 genommen. In Plauen trafen sich beispielsweise Demonstranten am Wendedenkmal. Dort zog man Parallelen zu den spontanen Demonstrationen, die im Umbruchjahr vor Ort eine große Rolle spielten.
Dass die Pandemie-Situation und die damit einhergehenden zeitweisen Grundrechtseinschränkungen Sorgen und Ängste hervorrufen, ist nachvollziehbar. DDR-Vergleichen und Behauptungen, es würden heute diktaturähnliche Zustände herrschen, muss ich allerdings entschieden widersprechen. Diese Bezugnahmen stützen und befeuern eine Erzählung, die in den letzten Jahren von PEGIDA, AfD und anderen rechten Gruppen kultiviert wurde. Den Ostdeutschen wird darin die Rolle der widerständigen Umstürzler zugeschrieben, die es 1989 geschafft hätten, ein System aus den Angeln zu heben, und die das heute wieder tun sollten. Das ist eine fatale, letztendlich demokratiefeindliche Perspektive.
Ist das Gefühl der "Corona-Bevormundung" geschichtsbedingt vor allem bei Ostdeutschen ausgeprägt?
Auch in Westdeutschland gab es zahlreiche Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, etwa in Stuttgart oder München. Vergleiche mit der DDR werden dort seltener gezogen. Und im Osten ist das Gefühl der Bevormundung in der derzeitigen Situation auch nicht omnipräsent. Es gibt zwar keine konkreten Zahlen, wie hoch die Zustimmung zu den Corona-bedingten Einschränkungen speziell in Ostdeutschland tatsächlich ist. Insgesamt war sie jedoch sehr hoch, vor allem zu Beginn der Pandemie.
Allein aufgrund der Erfahrung, in der DDR gelebt zu haben, werden nicht automatisch Parallelen zwischen der derzeitigen Situation und damals gezogen. Solche Gleichsetzungen sind gängige Argumentationsmuster neurechter Akteure bis hin zu Neonazis. Leider finden sie derzeit vermehrt Anklang. Inwiefern diese Deutungsangebote verfangen und alltagsweltlich angeeignet werden, untersuchen meine Kollegen Greta Hartmann und Alexander Leistner. Bei einem Blick in die Berichterstattung zeigen sich aber noch zahlreiche andere Deutungen in Bezug auf Ostdeutschland und die Covid-19-Pandemie. Etwa, dass die Erfahrungen mit der Transformation die Ostdeutschen krisenfester gemacht hätten oder dass sie aufgrund der DDR-Erfahrung autoritätshöriger seien. Häufig wurden auf die signifikant geringeren Fallzahlen im Osten hingewiesen. Schnell führte man das auf demographische Merkmale der Ostdeutschen zurück, die beispielsweise weniger mobil seien.
Einfache Alltagserfahrungen wie das Schlangestehen vor Geschäften riefen bei einigen Beobachtern spontan Assoziationen zum Alltag in der DDR hervor. Historisch-politische Bildungsprozesse können helfen, die verschiedenen Bezugnahmen besser einzuordnen und zu reflektieren. Besonders für Jugendliche, die selbst keine eigenen Erinnerungen an die DDR oder an 1989 haben, die sich aber mit den derzeitigen Kontroversen auseinandersetzen, ist es wichtig, die Geschichte zu aktuellen Gesellschaftslagen und Konflikten befragen zu können.
Was wissen junge Menschen heute überhaupt noch über die DDR-Geschichte? Ist da 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch Interesse da, darüber etwas zu erfahren?
Immer wieder wird darauf aufmerksam gemacht, dass Jugendliche heute zu wenig über die DDR und 1989 wissen. Meine Erfahrungen sind in diesem Punkt differenzierter. Ich habe selbst einige Jahre mit Jugendlichen zum Thema DDR-Geschichte gearbeitet und untersuche in meinem Forschungsprojekt derzeit, wie in verschiedenen Bildungsveranstaltungen DDR-Themen verhandelt werden. Enzyklopädisches Wissen mag häufig nur eingeschränkt vorhanden sein, das stimmt - ist nebenbei gesagt aber kein Alleinstellungsmerkmal von Jugendlichen. Doch viele junge Menschen haben Vorstellungen und Ideen zur DDR, der friedlichen Revolution oder den Nachwendejahren im Kopf. Sie sind geprägt von ihren Eltern, von Filmen, Comics oder durch die Schule. Die Erzählungen, die sie in den verschiedenen Zusammenhängen hören, können sehr unterschiedlich sein und sich auch widersprechen. Viele Eltern in Ostdeutschland erinnern die Wende als eine Phase der Unklarheiten und Zukunftsängste. In der Schule spielen solche Dinge zumeist jedoch keine Rolle, und 1989 ist häufig einfach nur das Ende der DDR. Es ist nicht immer leicht für die Jugendlichen, diese verschiedenen Geschichten in kohärente Zusammenhänge zu bringen.
Wie wird in Schulen mit diesem Thema umgegangen?
Wie die Schule mit diesem Thema umgeht, dazu kann ich wenig sagen. In den außerschulischen Veranstaltungen, die ich untersuche, ist allerdings häufig zu wenig Raum und Zeit, um die Deutungen und Vorstellungen der Jugendlichen zu diskutieren, ihre Perspektiven von Anfang an einzubinden und offene Fragen zu besprechen. In der Schule wird es aufgrund der vollen Curricula ähnlich sein. Das sind keine guten Voraussetzungen für nachhaltige Bildungsprozesse, die eigentlich genau bei diesem alltagsweltlichem Wissen der Jugendlichen ansetzen sollten, um im Endeffekt nicht wirkungslos zu bleiben. Noch zu häufig wird auf die Vermittlung eines chronologischen Basiswissens gesetzt.
Ich plädiere dafür, die Kompetenzen der Jugendlichen zu stärken und sie dadurch zu befähigen, selbstständig mit Geschichtsbildern umzugehen und ihren eigenen Standpunkt in Geschichte und Gesellschaft finden zu können. Dann verfangen Bilder von 1989, wie das der AfD, auch nicht. Im vergangenen Jahr hat die rechte Partei mit einem Wahlkampfcomic gezielt Werbung bei jungen Menschen gemacht. In dem Comic setzte sie die DDR mit der aktuellen politischen Lage gleich. Solche absurden Parallelisierungen als inkonsistent einordnen zu können, wäre wichtig. Das setzt natürlich eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem SED-Unrechtsstaat voraus, aber eben auch mit aktuellen Geschichtsbildern.
Sie haben eine Umfrage in Institutionen der außerschulischen DDR-Geschichtsvermittlung durchgeführt, um deren Situation in Zeiten der Corona-Krise zu erfassen. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Außerschulische Bildungsinstitutionen rutschen häufig vom Radar, weil sie, anders als Schulen, gesellschaftlich für abkömmlich gehalten werden, was sie keinesfalls sind. Gerade in der Anfangszeit der Pandemie, als Gedenkstätten schließen mussten, Bildungsveranstaltungen ausfielen und auch Vortragsabende oder Podiumsdiskussionen abgesagt wurden, brachen die Besucherzahlen natürlich vollständig ein. Damit gerieten die außerschulischen Jugendbildungseinrichtungen komplett ins Abseits. Eine fatale Situation, in der die Institutionen ihrem Bildungsauftrag nicht mehr nachkommen konnten. Für einige war das existenzbedrohend, weil Einnahmen wegfielen, die Fixkosten aber weiterliefen. Als wir die Befragung im Juni durchführten, waren dann viele Einrichtungen damit befasst, digitale Alternativen ihrer Bildungsangebote zu erarbeiten. Das bedeutet für sie einen nicht unerheblichen Mehraufwand, und häufig fehlen dafür die technischen Voraussetzungen. Bis jetzt ist nicht klar, wann Präsenzveranstaltungen wieder vollumfänglich möglich sein werden.
Viele der Befragten schauen vor diesem Hintergrund besorgt in die Zukunft, haben Angst, dass Stellen nicht besetzt werden, Förderungen und Einnahmen 2021 weiter ausbleiben oder wegbrechen. Auch inhaltlich werden auf die Institutionen der außerschulischen DDR-Geschichtsvermittlung vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen gesellschaftlichen Entwicklungen große Herausforderungen zukommen. Viele der Befragten haben vor, Menschen-, Grund- und Freiheitsrechte stärker in die historisch-politische Bildungsarbeit zur DDR einzubinden. Außerdem sollen die Vergleiche zwischen den Covid-19-Maßnahmen und der SED-Diktatur ins thematische Repertoire aufgenommen werden. Diese Vorhaben sind nicht zu unterschätzen.