Pressemitteilung 2024/062 vom

Die Universität Leipzig war im Nationalsozialismus eines der Ausbildungszentren „rassenhygienischer“ Ideologie, 1939 begannen an der Universitätskinderklinik „Kinder-Euthanasie“-Verbrechen. Mit einem neu errichteten Mahnmal auf ihrem Erziehungswissenschaftlichen Campus gedenkt die Universität der Kinder mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen, die diesen Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Zur Einweihung des Mahnmals kamen heute (16. April 2024) Vertreter:innen von Universitätsleitung, sächsischem Sozialministerium und Stadt Leipzig sowie des Beirats für Menschen mit Behinderungen der Stadt Leipzig, des Landesbeirats für Inklusion der Menschen mit Behinderungen und aus Selbstvertretungen von Menschen mit Behinderungen. Anwesend waren auch die beiden Künstler Prof. Andreas Wendt und Tobias Rost.

Die „Kinder-Euthanasie“ war Teil eines weitreichenden Programms der Nationalsozialisten, das auf der „rassenhygienischen“ und eugenischen Ideologie basierte. Unter der Programmatik von sogenannten „lebenswerten“ und „lebensunwerten“ Existenzen wurden Menschen mit Behinderungen, psychischen und anderen Erkrankungen systematisch getötet. Im gesamten Deutschen Reich fielen den „Kinder-Euthanasie“-Verbrechen mehr als 5.000 Kinder zum Opfer. 

Die Auswirkungen, die das Handeln des Rechtswissenschaftlers Karl Binding hatte, der in den akademischen Jahren 1892/93 und 1908/09 als Rektor die Universität Leipzig leitete, waren verheerend. Mit seiner 1920 posthum veröffentlichten Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ trug Binding dazu bei, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Entmenschlichung und Tötung von Menschen mit Behinderungen als akzeptabel angesehen wurden. Seine Ideen wurden nach 1933 im Nationalsozialismus als rechtliche Legitimation der Umsetzung des „Euthanasie“-Programms betrachtet. 

An der Universität Leipzig begann bereits 1933 eine Unterrichtung der Studierenden aller Fachrichtungen in „Rassenkunde“. Im gleichen Jahr wurde Professor Werner Catel Direktor der Universitätskinderklinik Leipzig. Er richtete später Kinderfachabteilungen in der Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen sowie in der Universitätskinderklinik ein, wo durch überdosierte Medikamentierung, Vernachlässigung oder Nahrungsentzug die begutachteten Kinder und Jugendlichen mit „Defekten“ getötet wurden. 

„Diese Verbrechen sprengen noch heute unser aller Vorstellungsvermögen. Doch das Unvorstellbare ist geschehen, und es ist auch Teil der Vergangenheit der Universität Leipzig. Diese Vergangenheit wird nicht dem Vergessen überlassen werden, sondern muss in unser aller Bewusstsein gegenwärtig bleiben“, sagte heute Prof. Dr. Eva Inés Obergfell, Rektorin der Universität Leipzig. 

Das Mahnmal solle „insbesondere uns als Universitätsmitgliedern Mahnung sein: Wissenschaft soll Menschen dienen, sie muss ethischen Prinzipien folgen, die die Menschlichkeit und die Würde jedes Menschen wahren“. Darüber hinaus solle es dazu anregen, sich mit der noch heute bestehenden Ausgrenzung und Herabwürdigung von Menschen und insbesondere von Kindern mit Behinderungen auseinanderzusetzen, insbesondere auch im Rahmen von Studieninhalten angehender Pädagog:innen.

„Aus den Lehren der Vergangenheit müssen Impulse für die Zukunft entstehen“

Die Rektorin würdigte ausdrücklich das Engagement all derer, die sich für das Mahnmal ausgesprochen und sich um die Errichtung verdient gemacht haben: „Über viele Jahre hinweg haben sich Gunter Jähnig vom Behindertenverband Leipzig und die Mitglieder des Beirats für Menschen mit Behinderungen der Stadt Leipzig für die Errichtung eines Mahnmals eingesetzt. Das gemeinsame Bestreben, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten und eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zu fördern, ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer verantwortungsvollen und aufgeklärten Gesellschaft. Deshalb gebührt allen, die sich diesem Prozess verschrieben haben, unser besonderer Dank.“

Das Mahnmal steht an Haus 5 der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät (Marschnerstr. 29E) und besteht aus zwei Teilen, dem „Kleinen Garten für die Kinder“ (Pflanztröge und eine Sitzbank) und einem Schreibtisch aus Beton mit gusseisernen Stühlen. Gestaltet wurde es von den an der Universität Leipzig als Kunstpädagogen tätigen Künstlern Prof. Andreas Wendt und Tobias Rost. Auf einer Stele gibt es einen erläuternden Text und einen Hinweis auf eine eigens eingerichtete Internetseite (www.uni-leipzig.de/mahnmal). 

Im Foyer des Gebäudes selbst können Hochschulangehörige und Besucher:innen seit 2018 bereits die vom damaligen Prorektor für Bildung und Internationales Prof. Dr. Thomas Hofsäss beauftragte Dauerausstellung „Ausgegrenzt, entwürdigt, vernichtet – ‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation in Leipzig“ ansehen. Weniger als 400 Meter entfernt befindet sich darüber hinaus das Sächsische Psychiatriemuseum, das sich auch dem Thema „Euthanasie“ widmet (Mainzer Str. 7). Seit 2011 existiert zudem ein Gedenkort der Stadt Leipzig, die „Wiese Zittergras“ im Friedenspark, auf dem Gelände des ehemaligen Johannisfriedhofs, auf dem eine hohe Zahl an „Euthanasie“-Opfern beerdigt wurde.

Zu dem „kleinen Garten“ schreibt der Künstler Andreas Wendt: „Die bunte und kindgerechte Bepflanzung erfreut die Vorbeigehenden und schafft im Wandel der Jahreszeiten eine Lebensgrundlage für Insekten. Der Garten erinnert uns auf offensichtliche und auch subtile Weise daran, wie wichtig es ist, niemals zu vergessen, welches Leid die Opfer in der Zeit des Nationalsozialismus erleiden mussten – sei es durch die Täter oder durch die Mitläufer, die an der Universität Leipzig geduldet wurden.“ Bildhauer Tobias Rost schreibt zu seinem Mahnmal-Beitrag aus Beton und Eisen, dass er „die Rationalität des Tötungssystems zeigen und zugleich Mitgefühl bei den Betrachter:innen wecken“ wolle. „Die eisernen Stühle stehen leer, jede Person kann die Position der Opfer und der Täter einnehmen.“

„Das Mahnmal ist bewusst an unserer Erziehungswissenschaftlichen Fakultät errichtet, denn aus den Lehren der Vergangenheit müssen Impulse für die Zukunft entstehen, insbesondere für die nachkommenden Generationen“, sagte Rektorin Obergfell in ihrer heutigen Ansprache. An der Bildungsstätte künftiger Lehrer:innen werde das Verständnis von Erziehung erforscht, und es werde eine inklusive und sozial gerechte Bildungspraxis weiterentwickelt. 

Finanziert wurde das Mahnmal mithilfe einer Förderung der Universitätsstiftung. Teilleistungen wurden durch Inklusionsmittel realisiert, die der Freistaat Sachsen der Universität zur Verfügung gestellt hat.