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Wir setzen unsere Reihe fort, in der wir Wissenschaftler:innen der Universität Leipzig aus verschiedenen Fachrichtungen zu Themen aus Forschung und Lehre zum Nahost-Konflikt zu Wort kommen lassen. Diesmal äußern sich die Slawistin Prof. Dr. Anna Artwinska und der Historiker Prof. Dr. Dirk van Laak. Sie erklären, welche historischen und kulturellen Muster die Debatte um den Gaza-Krieg in Deutschland und Osteuropa durchziehen und wieso ihnen die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen in Israel besonders wichtig ist. Artwinska und van Laak sind beteiligt am neuen deutsch-israelischen Graduiertenkolleg „Belongings“, das sich ab August 2024 der Erforschung der europäisch-jüdischen Geschichte und Kultur widmen wird.

In der westlichen Öffentlichkeit haben sich anscheinend zwei Lager gebildet, die sich entweder mit Israel oder mit den Palästinensern solidarisieren. Lässt sich das (auch) historisch erklären?

Prof. Dr. Dirk van Laak: Wie eigentlich fast immer, spielen Geschichte und Erinnerungskultur bei solchen Fragen eine wesentliche Rolle. Deutschland ist hier bekanntlich besonders geprägt, auch wenn sich ein umfassendes Bewusstsein in Bezug auf das Außergewöhnliche der Shoah erst seit den 1980er Jahren herausgebildet hat. Ein Wiedergutmachungsabkommen mit Israel musste in den 1950er Jahren von Bundeskanzler Konrad Adenauer noch gegen den Willen einer Mehrheit der Westdeutschen durchgesetzt werden. 

In der Phase der Dekolonisation, besonders nach dem Sechstagekrieg im Jahr 1967, setzte sich in Kreisen westdeutscher Linker die These fest, Israel sei ein imperialistischer Staat und überhaupt eine Art von westlicher „Siedlungskolonie“ im arabischen Raum. Das bedingte dann eine Solidarität mit den vertriebenen und „unterdrückten“ Palästinensern. Diese kritische Auffassung gegenüber Israel war auch in der DDR eine Staatsdoktrin, bis sie sich in den späten 1980er Jahren zu lockern begann. 

Seit einiger Zeit wird nun diskutiert, ob der Holocaust nicht stärker in Bezug zu anderen, etwa kolonialen Genoziden gesetzt werden sollte. Das geschieht auch, wobei die Einzigartigkeit der staatlich sanktionierten Verfolgung und systematischen Ermordung von Juden im „Dritten Reich“ bislang nicht hat erschüttert werden können. Die Diskursverläufe sind heute sehr schwer zu identifizieren und mit allem Möglichen aufgeladen, das sich mit historischer Erkenntnis nicht mehr begründen lässt. 

Wie wird in Polen über das Massaker vom 7. Oktober und den Gaza-Krieg diskutiert? Gibt es Unterschiede zur Debatte in Deutschland?

Prof. Dr. Anna Artwinska: Ähnlich wie in Deutschland gibt es auch in Polen keine einheitliche Debatte zum Nahostkonflikt, sondern eine Vielfalt von Stimmen, Meinungen und Positionen, die quer durch die Gesellschaft gehen. Vergleicht man diese Diskussionen mit Deutschland, so wird deutlich, dass trotz vieler Unterschiede, die auf die jeweilige historische Vergangenheit zurückzuführen sind, in Polen heute ähnliche Argumentationslinien "pro Israel" bzw. "pro Palästina" verwendet werden. 

Anhand des Nahostkonflikts merkt man deutlich die Globalisierung. Es sind transnationale Allianzen und Zusammenschlüsse zu beobachten, zum Beispiel unter einigen linken Gruppen, die in Israel einen „Kolonialstaat“ sehen wollen oder unter protestierenden Studierenden. Da aber die Existenz Israels in Polen keine Staatsräson wie in Deutschland ist, wird die Kritik an Israel – etwas pauschal formuliert – oft heftiger und direkter geführt. 

Die Debatten über den Gaza-Krieg verschränken sich zudem mit den Debatten über Gewalt und Push-Backs an der polnisch-belarussischen Grenze, wobei nicht historisch, sondern aus der Perspektive von Menschenrechtsverletzungen argumentiert wird. Andererseits ist Polen ein Land, in dem vor dem Zweiten Weltkrieg rund 3,4 Millionen Jüdinnen und Juden lebten; viele Israelis haben polnische Wurzeln. Dies bleibt nicht ohne Einfluss auf die Perspektive, aus der – natürlich wiederum nur in bestimmten Kreisen – auf den Konflikt geschaut wird.

Inwieweit prägt in Osteuropa der Holocaust den Blick auf den Nahost-Konflikt?

Artwinska: In den Kulturen Ost- und Ostmitteleuropas findet im 21. Jahrhundert eine intensive Aufarbeitung des Holocaust statt. Dabei stellt sich heraus, dass zum Beispiel die polnische Gesellschaft, die sich gerne mit der Rolle der Gerechtesten unter den Völkern identifiziert, während des Holocaust auch als Mittäter agierte. Spätestens seit der Veröffentlichung von Jan Tomasz Gross' „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“ (2001) ist klar, dass sich die polnische Gesellschaft auch mit ihrer eigenen Geschichte der Kollaboration und Auslieferung von Juden an die Nationalsozialisten auseinandersetzen muss. Dies bleibt jedoch eine unbequeme Wahrheit, die viele nicht wahrhaben wollen. 

Der Nahost-Konflikt hat den latenten polnischen Antisemitismus leider wieder entfacht. Ich beobachte antisemitische Äußerungen sowohl von der politischen ,Rechten‘ als auch von der ,Linken‘, sowohl in den Mainstream-Zeitungen als auch in den sozialen Medien. Das soll nicht heißen, dass alle Polen antisemitisch sind, aber eine nicht aufgearbeitete Geschichte des Antisemitismus kann dazu führen, dass judenfeindliche Äußerungen leichter und ungestraft weitergegeben werden. 

In Tschechien ist die Situation wiederum anders, da die meisten Jüdinnen und Juden vor 1939 deutschsprachig und stärker in die tschechischsprachige Gesellschaft integriert waren. Einen Antisemitismus gab es in Tschechien natürlich auch, aber in einem anderen Ausmaß als in Polen. Aus diesem Grund prägt der Holocaust in Tschechien weniger die Wahrnehmung des Nahostkonflikts. Bei der Abstimmung über die US-Resolution im Herbst 2023 zu einem sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen stimmte Tschechien übrigens mit „Nein“.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Prof. Dr. Dirk van Laak
Prof. Dr. Dirk van Laak, Foto: Christiane Gundlach

Wenn es um die Haltung der Bundesrepublik zu Israel geht, wird oft auf die deutsche Schuld am Holocaust hingewiesen. Was antworten Sie Menschen, die sagen, Deutschlands Unterstützung für Israel sei zu einseitig und zu sehr von der eigenen Vergangenheitsbewältigung geprägt?

van Laak: Hier kann man nur wiederholen, was eigentlich fast immer betont wird: Aus der besonderen Verantwortung Deutschlands für eine Heimstatt der Juden und für deren Sicherheit ergibt sich keine unkritische Akzeptanz für alles, was israelische Regierungen entscheiden. Daraus folgt auch keine Unterscheidung des Existenzrechts von Israelis und Palästinensern, das ist doch selbstverständlich – und übrigens auch eine Lehre aus der Geschichte. Dafür muss man auch gegenüber den nationalistischen Kräften in Israel eintreten, die Palästinensern ihre Aufenthaltsrechte absprechen, aber auch gegenüber den arabischen Nachbarstaaten, die bislang zur Lösung des Konflikts wenig beigetragen haben.

Artwinska: Ich würde darauf mit einer Gegenfrage antworten, und zwar: was bedeutet „zu sehr“ von der eigenen Verantwortung geprägt? Wo und von wem wird die Grenze gezogen? Kann man und soll man sich überhaupt von der eigenen Geschichte, konkret hier von der Verantwortung für den Holocaust, distanzieren? Ist Deutschland wirklich so weit, um zu sagen, der Holocaust wurde genug aufgearbeitet? 

Wie Dirk van Laak bereits sagte: Das Existenzrecht von Palästinenser:innen stellt man durch diese Perspektivierung nicht in Frage, sie bedeutet auch nicht, dass man der israelischen Regierung immer zustimmen muss. Ein Beispiel aus einem anderen Kontext: Die Unterstützung der Ukraine ist nicht mit der Zustimmung für jegliche Entscheidungen des Präsidenten Selénskyj gleichzusetzten.

Von pro-palästinensischen Protestierenden ist auch die Forderung zu hören, Verbindungen nach Israel wegen des Gaza-Krieges zu beenden, beispielsweise die Forschungs- und Austauschkooperationen zwischen deutschen und israelischen Universitäten. Wie sind solche Boykott-Aufrufe historisch einzuordnen? Gibt es historische Parallelen?

van Laak: Der Name verweist auf einen Engländer, der im 19. Jahrhundert von Iren zum Verlassen ihres Landes genötigt wurde. Die Maßnahme selbst ist uralt, wurde unter anderem auch gegen Minderheiten eingesetzt, prominent beim Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933. Im Zulauf auf die Gegenwart nimmt das Mittel aber zu, weil die eng vernetzte Welt Abhängigkeiten schafft und Einzelne, Gruppen oder Nationen verletzlich macht. Boykottiert wird politisch, wirtschaftlich und sozial, vor allem um militärische Konfrontationen zu vermeiden – in Kriegszeiten wird sowieso fast alles unternommen, dem Gegner zu schaden.

Die Effekte solcher Maßnahmen sind freilich schwer einzuschätzen. Als relativ erfolgreich gelten etwa die Busboykotte in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder die Ächtung südafrikanischer Produkte in der Zeit der Apartheid. Sie trugen in den 1980er Jahren vermutlich zur Öffnung des Landes bei. Die Boykottaktionen gegen Russland seit 2022 zeigen aber, dass solche Isolationen kaum noch zu erreichen sind, weil die Schäden anderweitig kompensiert werden können. Sie bringen eher eine moralische Konsequenz der Boykottierenden zum Ausdruck und treffen, wenn auch nicht unbedingt beabsichtigt, zudem die Bevölkerung, nicht primär Putin und seine Kreise. 

Israel akademisch zu boykottieren machte unseres Erachtens aber keinen Sinn. Ein Großteil der dortigen Bevölkerung ist gegenüber dem Kriegsverlauf kritisch eingestellt und darf dies im Gegensatz zu Russland ja auch äußern. Diese Kräfte eines Ausgleichs müssen durch Kooperationen eher gestärkt werden, als sie durch pauschale Boykotte zu schwächen.

Artwinska: Boykottaufrufe gegen den wissenschaftlichen Austausch mit Israel tragen zur Lösung des Konflikts nichts bei: Israelische Wissenschaftler:innen stehen in aller Regel für eine offene Gesellschaft, und die stärken die Debatte über den Friedensprozess im Nahen Osten.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Zelte und Transparente in einem Park
Im Juni 2024 organisierten Aktivist:innen ein pro-palästinensisches Protestcamp in der Leipziger Lenné-Anlage, Foto: Ulf Walther

Thematisieren Sie aktuelle Debatten um Antisemitismus, den Gaza-Krieg oder andere politische Geschehnisse in Ihrer Lehre? Wie wird dazu im Seminar diskutiert?

Artwinska: Ich forsche und lehre zu slavisch-jüdischen Literaturen und zur Kulturgeschichte Ostmitteleuropa, so dass solche Themen wie polnisch-jüdische bzw. polnisch-tschechische Beziehungen, die Geschichte des Zionismus oder literarischer Antisemitismus stets ein Teil meiner Lehrveranstaltungen sind. Direkt auf die politische Situation wird dennoch in meinen Veranstaltungen nicht eingegangen, weil ich dafür keine ausreichende Expertise habe. 

Allein die Analyse literarischer Texte aus Ostmitteleuropa zeigt jedoch in aller Deutlichkeit die lange Dauer von antijüdischen und antisemitischen Bildern und Denkfiguren, man denke nur an den Vorwurf des Ritualmordes. Auch die Sprache, mit der zum Beispiel heute ein Boykott Israels gefordert wird, erinnert an die Sprache der Antisemit:innen, die in den 1930er Jahren zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen oder, um auf ein Beispiel aus Polen zurückzugreifen, die separate Plätze in den Hörsälen für jüdische Student:innen forderten. 

van Laak: Aktuelle Debatten haben auf die Entwicklung von Forschungsfragen immer eine Auswirkung, und sie beeinflussen auch die Wahl von Lehrstoffen. Ich habe nach dem Tod von George Floyd ein sehr intensives Seminar zur Geschichte des Rassismus durchgeführt. Der Antisemitismus in all seinen offenen und subtilen Varianten ist sowieso ein tragender Aspekt der Zeitgeschichte und der Erinnerungskultur, und das weit über Deutschland hinaus.

Meiner Wahrnehmung nach sind viele Studierende in Bezug auf den Nahost-Konflikt sehr zurückhaltend, was ich vollauf verstehen kann. Kaum ein Konflikt der Weltpolitik ist derart komplex, an wenigen Orten überlagern sich durchaus legitime Interessen so vielschichtig. Ich war vor zehn Jahren mit Studierenden eine Woche in Israel unterwegs und halte mich deswegen natürlich nicht für einen Nahost-Experten. Aber ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass man allen eindimensionalen Lösungsvorschlägen gegenüber äußerst skeptisch bleiben muss. Den Kräften der Verständigung auf beiden Seiten sollte unsere Solidarität gehören, nicht den Scharfmacher:innen.

In Kürze startet in Leipzig und Jerusalem das erste deutsch-israelische Graduiertenkolleg in den Geisteswissenschaften. Wie kann eine solche wissenschaftliche Zusammenarbeit zur Konfliktlösung beitragen?

van Laak: Mit Israel sollte man schon deswegen in Kontakt und Austausch bleiben, weil das Land kulturell und historisch auf das Engste mit der europäischen Geschichte verwoben ist. Man kappt auch eigene Wurzeln, wenn man dies preisgibt. Es liegt doch viel näher, wie schon angedeutet, mit den kritisch und humanitär eingestellten Teilen der israelischen Gesellschaft zu reden, sie zu unterstützen und gemeinsam über friedliche Lösungen nachzudenken. In Zeiten der Renationalisierung kann so ein bunt zusammengesetztes Kolleg meines Erachtens nur als eine große Chance begriffen werden.

Artwinska: Im deutsch-israelischen Kolleg wird zur europäisch-jüdischen Geschichte und Kultur geforscht und gearbeitet. Das allein trägt schon viel zur Verständigung bei. Nicht zu unterschätzen ist auch der soziale Aspekt – die deutschen und israelischen Doktorand:innen werden gemeinsam an ihren Dissertationsprojekten arbeiten, sie werden regelmäßig unterschiedlichen Aktivitäten wie Workshops und Sommerschulen in Deutschland und Israel nachgehen. Die Doktorand:innen aus Israel werden Deutsch und die aus Deutschland Hebräisch lernen. Auch die Betreuung ist binational gedacht, das heißt es wird einen regelmäßigen wissenschaftlichen Austausch auch auf der Dozent:innen-Ebene geben. Ich persönlich halte es für sehr wichtig, durch die Zusammenarbeit mit den Kolleg:innen von der Hebräischen Universität ein Zeichen zu setzen.

Das internationale DFG-Graduiertenkolleg „Belongings: Jewish Material Culture in Twentieth-Century Europe and Beyond“ wird sich der Erforschung der jüdischen materiellen Kultur in der Moderne widmen. Es handelt sich um eine Kooperation zwischen dem Leipziger Simon Dubnow-Institut, der Universität Leipzig und der Hebräischen Universität Jerusalem.
 

22 Doktorand:innen sowie zwei Postdocs werden ab August 2024 in zwei Kohorten in Jerusalem und in Leipzig in einem strukturierten Programm zusammenarbeiten und dabei von Professor:innen der Universitäten in Leipzig und Jerusalem gemeinsam betreut.

 

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