Pressemitteilung 2002/286 vom

Interview mit Prof. Wieland Kiess, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche der Universität Leipzig

Auf der Tagung der deutschen Kinderärzte im September war Übergewicht im Kindes- und Jugendalter eines der zentralen Themen. Die Pädiater waren sich einig, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Worin sehen Sie die Ursachen dafür, dass immer mehr Kinder immer dicker werden?

"Das liegt in der Familie", hört man häufig, wenn Eltern darauf angesprochen werden, dass ihre Kinder zu dick sind. Sie denken dabei vor allem an genetische Faktoren, die Adipositas (= Übergewicht) bedingen sollen. Eine der wesentlichen Ursachen sind aber auch die Ernährungsgewohnheiten in der Familie. Es wird zu viel, zu süß und zu fett gegessen, Obst und Gemüse stehen nur am Rande auf dem Speisezettel. Hinzu kommt mangelnde Bewegung. Computer und Fernseher ersetzen immer mehr die Freizeitbeschäftigungen, die eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung fördern.

Wie viele Kinder leiden denn an Adipositas?

Zunächst muss man deutlich zwischen den Industrienationen und den Ländern der Dritten Welt unterscheiden. Während in den Entwicklungsländern nach wie vor täglich Tausende von Kindern an Unterernährung sterben, sind in den Industrienationen bis zu 20 Prozent der Kinder übergewichtig. In unserem Gesundheitsnetzwerk CrescNetR, dass von Wissenschaftlern der Leipziger Universitätskinderklinik um Prof. Eberhard Keller unter Beteiligung von über 200 niedergelassenen Kinderärzten entwickelt wurde, kann man deutlich ablesen, dass in Deutschland nicht nur immer mehr Kinder übergewichtig sind, sondern dass die dicken Kinder immer dicker werden. 2001 wogen z. B. die übergewichtigen zwölfjährigen Mädchen durchschnittlich 72,5 kg. 1988 waren es noch 71,5 kg. Aus Erfahrung wissen wir, dass etwa vom 12. Lebensjahr an das Übergewicht in der Regel auch im Erwachsenenalter bestehen bleibt.

Welche Folgen hat das für die betroffenen Kinder?

Dicke Kinder sind immer wieder Zielscheibe des Spottes ihrer Spielkameraden. Sie werden häufig ausgegrenzt und haben Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl. Das führt dazu, dass diese Kinder besonders anfällig für Drogen, vor allem Alkohol und Nikotin sind. Aber nicht allein das, obwohl dies schon schwerwiegend genug ist. Kinder mit Adipositas leiden immer häufiger an typischen Erkrankungen des Erwachsenenalters. Bluthochdruck und Arteriosklerose, hormonelle Stoffwechselstörungen bis hin zu Diabetes Typ II, der normalerweise erst im fortgeschrittenen Lebensalter auftritt, sind Folgeerkrankungen von zunehmender gesellschaftlicher Bedeutung. Hinzu kommen orthopädische Schäden, Atembeschwerden bis zum Schlaf-Apnoe-Syndrom, bei den Mädchen Zystenbildung an den Eierstöcken, die zu Fruchtbarkeitsstörungen führen usw. Depressionen, Ängste und Essstörungen sind psychische Folgeerkrankungen. Alles zusammen zeigt die große psychosoziale und gesellschaftspolitische Bedeutung von Adipositas.

Mit bloßen Apellen oder Medikamenten bekommt man die Krankheit sicher nicht in den Griff. Hat der Kinderarzt überhaupt eine Chance, die Kinder von dem verhängnisvollen Weg abzubringen?

Der Kinderarzt allein mit Sicherheit nicht. Ohne die Eltern geht es auch nicht. Im Grunde geht es noch nicht einmal ohne die Unterstützung des gesamten Umfeldes, in dem sich unsere Kinder bewegen. Das Schwergewicht unserer Therapie muss auf Aufklärung liegen. Eltern und Kinder müssen über die Folgen der Adipositas Bescheid wissen. Erst dann können wir mit Massnahmen der Gewichtsreduzierung beginnen. Das bedeutet eine totale Umstellung des Lebensstils, angefangen bei der Ernährung über die Freizeitgestaltung bis hin zur Änderung von Werten, die tausendfach über die Medien auf unsere Kinder einstürmen. Wir in Leipzig haben gemeinsam mit der Sportwissenschaftlichen Fakultät ein Programm erarbeitet, das den Kindern erst einmal wieder die Freude an der Bewegung erschließen und Erfolgserlebnisse verschaffen soll, die abseits des Gewohnten liegen.

Wäre es nicht noch besser, mit der Therapie zu beginnen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist?

Das ist unser großes gesundheitspolitisches Ziel. Wir Pädiater haben eine große Kampagne gestartet, mit der alle gesellschaftlichen Bereiche auf das Problem Adipositas bei Kindern aufmerksam gemacht werden sollen. Wir möchten das allgemeine Bewußtsein dafür schärfen, dass wir alle für die Gesundheit unserer Kinder verantwortlich sind. Eltern sollten wissen, wie sie ihre Kinder richtig ernähren können und wie sie es erreichen können, dass sich ihre Kinder viel bewegen. Vorbildwirkung ist am erfolgreichsten. In Kindergärten und Schulen sollte das Sportangebot erweitert und attraktiver gestaltet werden. Zum Schutze unserer Kinder sollte Werbung und Verkauf von Süßigkeiten einer strengen Kontrolle unterliegen, genauso wie von Alkohol und Tabakwaren. Kindererziehung ist nicht nur eine Sache von Elternhaus und Schule. Die gesunde Entwicklung unserer Kinder sollte es uns allen wert sein.