Vor 60 Jahren wurde der Vorläufer der Afrikanischen Union (AU), die Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU), gegründet. Welches Ziel hat die Organisation damals verfolgt?
Die OAU hat zwei zentrale Ziele verfolgt: erstens die Souveränität ihrer damals 32 Mitgliedstaaten zu stärken und diese in die globale Situation der 1960er Jahre und die Blockkonfrontation zwischen Ost und West einzupassen, und zweitens die Dekolonisierung der anderen Staaten Afrikas voranzutreiben. Dazu zählte vor allem die Unterstützung des Kampfes gegen das Apartheidregime in Südafrika und andere Siedlerkolonien im südlichen Afrika, aber auch das Bemühen, im Verbund mit anderen postkolonialen Staaten, zum Beispiel aus Asien, einen Weg der Blockfreiheit im Kalten Krieg zu behaupten.
Mit der Transformation der OAU zur AU 2002, und angesichts der globalen Zäsur des Endes des Kalten Krieges, haben sich diese Ziele verschoben. Heute stehen Themen wie Frieden und Sicherheit, Handel oder Klimapolitik im Zentrum der Politik der Afrikanischen Union.
Die Einzelinteressen der Staaten sind mutmaßlich noch stärker ausgeprägt als die der Mitgliedsstaaten der EU. In welchen Dingen bestehen denn grundsätzlich die meisten Übereinstimmungen der Mitgliedsstaaten?
In der Tat berufen sich die AU-Mitgliedstaaten in vielen Fragen auf ihre nationale Souveränität und das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Trotzdem haben sich die 55 Mitgliedstaaten in den vergangenen knapp 20 Jahren auf eine Reihe gemeinsamer Positionen verständigen können. Dies betrifft unter anderem die Haltung zur Reform des UN-Sicherheitsrates, illegale Finanzflüsse und Drogen, die Entwicklungszusammenarbeit, die internationale Migration sowie das Naturressourcenmanagement. In diesen Fragen spricht die AU-Kommission für ihre Mitgliedstaaten, vor allem gegenüber den Vereinten Nationen und der Europäischen Union.
Dieser Prozess der Vergemeinschaftung hat, verglichen etwa mit der Europäischen Union, noch viel Potenzial. Während es in Europa etwa 310 vergemeinschaftete Politikfelder gibt (die sich unmittelbar auf die Mitgliedstaaten auswirken), sind es in der AU vielleicht zwei Dutzend. Dabei sind in zahlreichen Politikfeldern der AU weitere gemeinsame Positionen nicht nur denkbar, sondern werden aktuell durchaus auch diskutiert. Dieser Prozess ist zuweilen mühsam, aber durchaus zukunftsweisend.
Afrika ist etwas stärker in den Fokus der Weltpolitik geraten, seit einerseits die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer gen Europa zugenommen haben, andererseits ins Bewusstsein rückt, dass Russland und China ihren Einfluss auf den Kontinent massiv ausweiten, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Ist Afrika immer noch der „vergessene Kontinent“?
Aus Sicht Deutschlands und der EU, aber eben auch anderer globaler Mächte, ist Afrika sicherlich längst eine wichtige Größe. Der Kontinent ist aus verschiedenen Gründen zum Ziel wichtiger globaler Ordnungsprojekte geworden – von der „Neuen Seidenstraße“ Chinas zum europäischen „Global Gateway“-Projekt. Dies hat zunächst eine ökonomische Dimension, aber wenn wir an die Auswirkungen des Krieges Russlands gegen die Ukraine denken, geht es natürlich auch um geostrategische Positionierungen.
China hat in den vergangenen knapp 20 Jahren erhebliche politische und wirtschaftliche Investitionen in Afrika getätigt, mit denen die Staaten Afrikas sehr erfolgreich in die eigenen Waren- und Wertschöpfungsketten eingebunden worden sind. China hat wesentlich in Infrastrukturprojekte investiert, und damit auch Abhängigkeiten geschaffen. Dies betrifft unter anderem eine neue Verschuldungsspirale für zahlreiche afrikanische Staaten. Russland hat nach Jahren der politischen Abstinenz auf dem afrikanischen Kontinent zunächst eklektisch und opportunistisch agiert. In den letzten Jahren wurde jedoch deutlich in Konfliktschwerpunkte investiert, zum Beispiel in Libyen, Mali, Sudan und die Zentralafrikanische Republik, mit dem Ziel, die politischen Positionen des Westens zu unterminieren, eigenen geostrategischen Einfluss aufzubauen und von illegalen Ökonomien zu profitieren, zum Beispiel im Goldhandel.
Wohin wird sich die Afrikanische Union in den kommenden Jahren Ihrer Einschätzung nach entwickeln?
Die Afrikanische Union ist derzeit bemüht, ihre „strategischen Partnerschaften“ mit den Vereinten Nationen und der Europäischen Union, aber auch mit bilateralen Partnern wie China, Japan, Südkorea oder der Türkei neu zu bestimmen. Wenn es gelänge, diese Beziehungen strategisch im Sinne von fundamentalen AU-Interessen auszurichten, würden sich Möglichkeiten eröffnen, die Integration Afrikas in aktuelle Globalisierungsprozesse auch von Afrika aus stärker zu gestalten.
Gleichzeitig wird der Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung der Organisation selbst zweifelsohne voranschreiten. Die Fähigkeit der AU, die Interessen ihrer Mitgliedstaaten auch global vertreten zu können, wird allerdings wesentlich davon abhängen, dass es der AU gelingt, die Abhängigkeit von internationalen Gebern substanziell zu verringern. Gegenwärtig werden etwa 66 Prozent des AU-Haushaltes von internationalen Partnern bestritten. Die Transformation der OAU in die AU hat wichtige Voraussetzungen für eine aktive globale Rolle der AU geschaffen, die es nun mühsam auszubauen und dann auch zu nutzen gilt.