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Die EURO 2024 geht ab dem kommenden Wochenende in die spannendste Phase über: In die Finals, die KO-Phase. Dann kommt nur weiter, wer gewonnen hat – und sei es im Elfmeterschießen. Wer den entscheidenden Elfer rein macht ist der Held der Nation, wer den entscheidenden verschießt ist… Gesellschaftswissenschaftler Dr. Alain Belmond Sonyem beschreibt in einem Blog den Moment, in dem Rassismus offen zutage treten kann – wenn der entscheidende Elfer verschossen wird. Kann Fußball wirklich Gräben überwinden? Was verschleiern Parolen wie „Everybody’s Heimspiel“ oder der aktuelle Claim der UEFA für die EM 2024 „United by Football. Vereint im Herzen Europas“? Wann werden Zugehörigkeiten im Fußball offenbar?

„Fußball verbindet uns.“ Mit dieser Aussage aus dem Jugendroman „Mandela und Nelson“ von Hermann Schulz soll auf das interkulturelle Potenzial von Fußball hingewiesen werden. Inszeniert werden in diesem Roman „bunte“ Mannschaften, wie sie heute in den meisten großen europäischen Fußballvereinen zu finden sind. Auf der einen Seite steht eine tansanische Mannschaft, die aus Mädchen und Jungen aus armen und reichen Elternhäusern sowie aus unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und Volksgruppen besteht. In dem Roman befähigt diese Vielfalt das Team, Diskriminierungen entschieden zu begegnen. Der tansanischen Elf gegenüber steht eine fiktive deutsche Jungenmannschaft aus Jugendlichen unterschiedlicher Haut- und Haarfarben, darunter auch fünf Schwarze Spieler. Schwarze Fußballspieler:innen, so der tansanische Trainer im Roman, seien inzwischen sehr angesehen in Deutschland. Diese Umkehrung der Narrative soll den Blick auf den Anti-Schwarzen Rassismus im Fußballbereich lenken. 

Nun von der Fiktion zur Realität: Am 21. Juni 2023 verschossen Youssoufa Moukoko und Jessic Ngankam beim Auftaktspiel zur Europameisterschaft der deutschen U-21-Fußballnationalmannschaft der Männer jeweils einen Elfmeter. Moukoko berichtete anschließend von massiven rassistischen Beleidigungen gegen beide Spieler: „Wenn wir gewinnen, sind wir alle Deutsche. Wenn wir verlieren, kommen diese Affen-Kommentare. Jessic hat sie bekommen, ich habe sie bekommen. Solche Dinge gehören einfach nicht zum Fußball.“ Die explizite Unterscheidung zwischen dem gewinnenden „Wir“ (eingerahmt in „sind… alle Deutsche“) und dem verlierenden „Wir“, das mit dem rassistischen Bild des Affen gekoppelt wird, deutet darauf hin, dass Rassismus im deutschen Fußball wie auch in anderen Ländern ein strukturelles Problem bleibt, das in Momenten wie Elfmetersituationen deutlich zum Vorschein kommt.

„United by Football“ – Fußball und Zusammenhalt

Dass Fußball gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften kann, ist nicht zu leugnen. Wenn die Nationalmannschaft spielt, sitzen Fans aus allen Teilen des Landes und weltweit vor dem Fernseher und sehnen sich Tore für ihre Mannschaft herbei – egal, wer sie schießt – oder beten für den Sieg – egal, wer die Mannschaft zum Sieg führt. Das Publikum ist bunt und multikulturell. Während Rassismus im Alltag vieler allgegenwärtig ist, ist es beim gemeinsamen Fußballschauen auf einmal egal, wie jemand aussieht, woher jemand kommt, welcher Religion er oder sie angehört, ob er oder sie Hunger leidet, diskriminiert wird oder Privilegien genießt. Im Grunde spielen nur noch die Augen eine Rolle: zum Anschauen des Spiels. Welche Farbe diese Augen haben, ist für den Genuss, Fußball zu schauen, unerheblich. Selbst mit geschlossenen Augen bleibt das Fußballspiel ein sinnliches Erlebnis: der Jubel, das Raunen, das Trommeln, das Klatschen, das Singen. Wenn Tore geschossen werden, jubeln alle und wenn es zu einer Niederlage kommt, ist die Enttäuschung groß. Die verzaubernde und verbindende Kraft von Fußball kann Differenzen überbrücken und den Eindruck vermitteln, alles sei gut. Und so wird auch Fußball instrumentalisiert, wenn man den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Ländern betonen möchte, in denen dieser Begriff oft nur Schein ist.

Kommt es vor, dass eine Person aus einer marginalisierten Gruppe einen entscheidenden Elfmeter verschießt, wie es im Juni 2023 bei Moukoko und Ngankam der Fall war, spielt die Hautfarbe ‚auf einmal‘ wieder eine Rolle.

Im Fußball geht es eigentlich nur um die sportliche Leistung, die Erfolg oder Niederlage besiegeln kann – nicht um Hautfarbe oder Herkunft. Wenn der oder die Fußballer:in Tore schießt und das Spiel gewinnt, ist er oder sie glücklich und bedankt sich bei ihrem bzw. seinem geschickten Fuß oder bei anderen beim Spiel zulässigen Körperteilen. Wenn die Person verschießt oder verliert, ist sie traurig und verflucht ihren Fuß, zum Beispiel, indem sie damit den Rasen zerstört und auf den Boden sinkt. So ist es auch bei den Zuschauenden. Die Beobachtung des Spektakels kann die Fans glücklich oder traurig machen. Der farbignorante Rassismus nach Tupoka Ogette oder auch Colorblindness nach Nell Edgar und Andre Johnson, dem bzw. der zufolge man (vermeintlich) keine Hautfarbe mehr sieht, die Gleichheit aller Menschen betont und Rassismus als ein Phänomen der Vergangenheit abtut, kommt jedoch genau in diesen Konstellationen zum Vorschein: Kommt es vor, dass eine Person aus einer marginalisierten Gruppe einen entscheidenden Elfmeter verschießt, wie es im Juni 2023 bei Moukoko und Ngankam der Fall war, spielt die Hautfarbe „auf einmal“ wieder eine Rolle.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Zu sehen ist der deutsche Nationalspieler Jamal Musiala beim Fußballspielen während eines Länderspiels.
In Stuttgart geboren, im Kader der Deutschen Nationalmannschaft und Fußballer of Color: Jamal Musiala. Foto: Colourbox

Der Elfmeter als Brennglas: Wie rassistisch ist eine Gesellschaft wirklich?

Den Elfmeter betrachte ich als Sinnbild für diesen oben beschriebenen farbignoranten Rassismus. Das hat folgende Gründe: Der Elfmeter ist zuerst einmal eine Übung zwischen zwei Personen – dem Torwart und der oder dem Schießenden. Jemanden zum Schießenden zu wählen ist ein Zeichen großen Vertrauens. Ob die Wahl dem oder der Trainer:in leichtfällt, bleibt dahingestellt. So ist es auch mit dem Spielenden, der sich bereit erklärt, diese Verantwortung zu übernehmen. Was spielt sich in seinen Gedanken ab? Ist er mental bereit? Hat er genug Selbstvertrauen? Weiß er, dass er verschießen kann? Der oder die Torhüter:in ist ohne Verteidigung vollkommen auf sich alleine gestellt. Es handelt sich um einen stressigen Moment für beide Beteiligte, aber auch um einen Moment, in dem beide zu ewig verehrten Held:innen werden können. Der Elfmeter ist also ein Art Weggabelung, an der man entweder zum „Held“ oder zum „Versager“ wird. Der Torwart und der oder die Schütz:in können die Zuschauer:innen enttäuschen und selbst enttäuscht werden. Gleichzeitig können sie dem Publikum (und sich selbst) auch große Freude bereiten. Wird das Tor geschossen, ist der oder die Torschütz:in Deutsche:r, um Moukokos Formulierung zu übernehmen. So spricht der an einen gelungenen Elfmeter anschließende Zuschauerjubel für Rassismusblindheit bzw. für einen Moment, in dem das Phänomen ignoriert wird. Wenn Spieler:in oder Torwart allerdings erfolglos sind, werden sie oft rassistisch beleidigt – der Elfmeter wird zum Auslöser für rassistisches Verhalten.

„Nicht Elfmeter, Rassisten sind das Problem“

Rassismus im Fußball, besonders in Verbindung mit verschossenen Elfmetern, hat eine lange Tradition in europäischen Stadien. Zwei weitere Fälle waren die Anfeindungen gegen den Franzosen Kingsley Coman beim Finale der Fußball-WM der Männer im Jahr 2022 gegen Argentinien und gegen den Engländer Marcus Rashford beim EM-Finale 2021 gegen Italien: Beide verschossen in entscheidenden Momenten Elfmeter. In den sozialen Netzwerken prasselten danach rassistische Beleidigungen auf beide Spieler ein, die selbst untröstlich waren, dass sie für ihre Karriere wichtige Titel verpasst hatten. Während einige Fans Verständnis zeigten und sie zu trösten versuchten, erhielt Coman beispielsweise auf seinem Instagram-Profil zahlreiche beleidigende Kommentare, darunter das N-Wort, Affen-Emojis und Sprüche wie „Geh zurück nach Afrika“. Dass Coman Franzose ist, spielte für die Kommentierenden offensichtlich keine Rolle. Am Ende der Europameisterschaft 2021 ging es dem Schwarzen Engländer Bukayo Saka ähnlich. Er erhielt Affen- und Bananen-Emojis und dazu unzählige Kommentare, er solle „zurück nach Afrika“ gehen.

Rassismus im Fußball, egal ob in Stadien, in Vereinen oder in den sozialen Medien, bleibt – frei nach Natasha Kelly – ein strukturelles Phänomen, das strukturell bekämpft werden muss.

BIPoC-Spieler:innen sind sich darüber bewusst, dass sie rassistisch beleidigt werden können, falls sie nicht die erhofften Leistungen erbringen oder Elfmeter verschießen. Als nicht nur Rashford, sondern auch Jadon Sancho und Bukayo Saka zu den Sündenböcken der EM-Niederlage Englands im Jahr 2021 gemacht wurden, erklärte Saka: „Ich wusste direkt, welchen Hass ich abbekommen würde.“ Rashford betonte seinerseits: „Mein Elfmeter war nicht gut genug, der Ball hätte reingehen müssen, aber ich werde mich niemals dafür entschuldigen, wer ich bin und woher ich komme.“ Mit diesen Aussagen machen sie darauf aufmerksam, dass Hasskommentare in den Medien nach der Niederlage mehr als nur Frust widerspiegeln – denn verschossene Elfmeter sind im Fußball etwas ganz Normales. Stattdessen kommen Ressentiments hoch, die immer noch tief sitzen. Obwohl Affenlaute und rassistische Schmähgesänge heute nur noch selten in Stadien zu hören seien, lebe der Rassismus „in der scheinbaren Anonymität der sozialen Netzwerke“ weiter, so der Journalist Joscha Weber. Die sozialen Medien sind so zu einem zentralen neuen Ort rassistischer Anfeindungen geworden.

Nicht zu leugnen ist aber auch, dass sowohl Moukoko und Ngankam als auch Coman und Rashford gleichzeitig viel Unterstützung von ihren Teams und ihren Fans bekamen: „Kingsley, diese rassistischen Nachrichten kommen nicht aus Frankreich. Wir lieben dich hier“, heißt es da. „Du bist nicht allein“, schreibt ein User. „Die Bayern-Familie steht hinter dir.“ Eine andere Person schreibt: „Hör nicht auf die Hater!“ Problematisch bei diesen Aussagen bleibt allerdings der Verallgemeinerungsversuch, der durch die Wörter „Frankreich“ und „Wir“ zum Ausdruck gebracht wird. Hier wird ignoriert, dass Rassismus ein strukturelles Problem ist, das in vielen Ländern Europas weiter besteht und sogar institutionell wirken kann. Das „Wir“ in Bezug auf die Franzosen leugnet implizit die Tatsache, dass die rassistisch beleidigten Spieler ebenfalls Franzosen sind, „obwohl“ sie Schwarz sind. Das „Hier“ impliziert gleichzeitig eine Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden. So unterstreicht der Tweet – wenn auch gut gemeint – gleichzeitig einen rassistischen Diskurs. Zwar kann behauptet werden, dass Rassist:innen als Individuen das Problem sind, aber Rassismus im Fußball, egal ob in Stadien, in Vereinen oder in den sozialen Medien, bleibt – frei nach Natasha Kelly – ein strukturelles Phänomen, das strukturell bekämpft werden muss.

Dr. Alain Belmond Sonyem ist Germanist und hat zu Afrikavorstellungen in deutschen Kinder- und Jugendbüchern promoviert. Im Rahmen der InRa-Studie »Institutionen & Rassismus« am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt forscht er am Standort Leipzig zu transnationalen Diskursen über Rassismus.