Pressemitteilung 2002/214 vom

Bürgerfest des Vereins Pro Plagwitz e.V.

Erwachsen ist das universitäre Projekt aus zwei Richtungen: Zum einen aus einem theoretisch orientierten Seminar (im Wintersemester 2001/02) zur Stadtsoziologie. Das Interesse erwies sich als derart groß, dass sich für Dr. Jörg Rössel und M.A. Michael Hölscher die Idee ergab, das Thema in Form eines Projektstudiums weiter- und womöglich gar bis zu diversen Abschlußarbeiten voranzutreiben. Und zum zweiten aus dem Gedanken heraus, dass ein Forschungsseminar den Studierenden auch die Erhebung und Erstellung der erforderlichen Datenbasis übertragen und nicht zwangsläufig als Sekundäranalyse bereits vorliegenden Materials verstanden werden sollte. 25 Studenten und Studentinnen ließen sich von der Idee, den Leipziger Stadtteil Plagwitz - der im Vergleich zum Viertel um die Eisenbahnstraße, der zweiten benachteiligten Lage in der Universitätsstadt, bislang nicht untersucht worden ist; der jedoch mit der Einbindung in das EU-Förderprogramm "Urban II" weitere Chancen auf Um- und Neugestaltung erhalten hat - soziologisch unter die Lupe zu nehmen, anstecken. Nachdem Rössel und Hölscher vor Ort bei Vereinen und Initiativen, bei der Stadtverwaltung sowie beim Umweltforschungszentrum Halle-Leipzig sondiert sowie den Fragebogen konzipiert und strukturiert hatten, ging es ins Zwiegespräch mit dem "Nachwuchs". Es sollte ein offenes Forschungsseminar werden. Nach allen Seiten. Schließlich war der vor allem quantitativ orientierte Fragebogen fertig und einige kleinere qualitative Projekte waren geboren.

Im Mai, Juni dann sind die Studenten der Universität treppauf, treppab gelaufen, haben Samstagmorgen oder Dienstagabend geklingelt, Nachbarn gefragt und zwischendurch angerufen. Der Aufwand, im Schnitt zwei- bis dreimal "anzuklopfen", hat Früchte getragen: Von tausend Haushalten, die vorab per Handzettel über das Auftauchen wissbegierigen Studenten "gewarnt" wurden, haben 350 den Fragebogen beantwortet. Das Gute am guten Rücklauf: Grundmerkmale wie Alter, Geschlecht, Bildung, Familienstand schlagen sich "halbwegs repräsentativ" nieder. Das wiederum Erstaunliche: Mit elf Prozent der Befragten ist die Gruppe der Arbeitslosen durchaus angemessen vertreten; und passend zu kleineren Quartieren, in denen vornehmlich ältere Menschen wohnen, findet sich auch die Altersgruppe zwischen 70 und 80 Jahre in relevanter Zahl wieder.

Neben der üblichen standardisierten Befragung zeigen beim jetzigen Stand des Seminars vor allem verschiedene der kleineren Projekte ihre informative und anregende Potenz. So wurde das Verhalten von Menschen auf Grünflächen beobachtet; Gaststätten wurden nach Angebot und Preisen sowie das Kommen und Gehen der Gäste unter die Lupe genommen; in der Oral-History-Form wurden Menschen, die bereits seit 50, 60 oder 70 Jahren im Stadtteil wohnen und leben, interviewt. Zudem richtete sich der Fokus auf Motive für Geschäftsansiedlungen und - schließungen und auf das Image von Plagwitz in den Medien.

Im Hintergrund der Untersuchungslinien stehen für die beiden Leipziger Soziologen zwei Theorien ihres Fachs: zum einen die relativ bekannte Theorie der Gentryfizierung, die in einem Modell die Veränderung zumeist alter, abgewirtschafteter Industrie- und Arbeiterviertel erfasst; in der Stufenfolge: erstens Ansiedlung von "Pionieren" wie Künstlern und Studenten in unkomfortablen, preiswerten Wohnungen, zweitens Nachzug einer lebendigen Szene aus Kultur, Kneipen, Ethno-, Naturkostläden etc., drittens Entfaltung eines unverwechselbaren Flairs, das nunmehr viertens das Interesse bei einer Yuppie-Schicht weckt, die wiederum fünftens in Lofts einzieht, die aus Ex-Fabriken, -Docks und -Depots entstehen. Die zweite Theorie, die durch die Plagwitz-Studie einer Prüfung unterzogen wurde, geht davon aus: So genannte mehrfach benachteiligte Wohngebiete wirken für ihre Bewohner wieder benachteiligend - in Stadtteilen und -vierteln, in denen Menschen auf Grund geringer oder fehlender Erwerbseinkommen wenig Geld ausgeben können, siedeln sich nicht nur weniger Geschäften, Kneipen und Kulturstätten an, auch an städtischer Infrastruktur wird über kurz oder lang gespart -, so dass sich von diesem Punkt aus die Situation im Stadtteil und des Stadtviertels zusätzlich verschlechtert.

Neben beiden Theorien rückten Jörg Rössel und Michael Hölscher die gemeinsame Idee, "die Beurteilung von Plagwitz als homogenes Viertel zu unterlaufen", in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Sie wagen dabei auch die These, dass Plagwitz auch aus historischem Blickwinkel nie homogen gewesen sei. An diesem Ansatz orientiert, richtete sich ihr Augenmerk "relativ zielgerichtet" auf zwei ausgewählte Quartiere: Von der Erich-Zeigner-Allee über die Nonnenstraße zur Weißen Elster reicht das eine; das andere zieht sich zwischen Karl-Heine-Straße über die Zschochersche Straße zum Karl-Heine-Kanal.

Eine erste, sondierende Auswertung der erhobenen Daten bestätigt die Unterschiede zwischen den beiden Quartieren. Die finden sich in der Bevölkerung - hier materiell sicher gestellte Menschen, wobei hierzu viele situierte Rentner gehören, dort tendenziell mehr Arbeitslose und deutlich mehr Studenten, beide auf preiswerten Wohnraum angewiesen; des weiteren fällt die Bewertung des Umfeldes deutlich unterschiedlich aus - sind hier 80 Prozent der Bürger zufrieden, so dort lediglich 30 Prozent. Der Blick auf die sozialen Beziehungen führt beide Gruppen hingegen wieder zusammen. "Letztlich", so Dr. Jörg Rössel, "war es für uns erstaunlich, dass nur ganz, ganz wenige Menschen keinen sozialen Partner angaben." Heißt, die meisten Befragten verfügen über ein halbwegs intaktes soziales Netzwerk.

Im jetzigen, wägenden Fazit - weiterführende Interviews und gründliche Auswertung werden wohl noch ein Jahr brauchen - stimmen die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften überein: Als Klassiker für das Modell der Gentryfizierung ist Leipzig-Plagwitz weniger geeignet. Eher zeichne sich eine "angebotsorientierte Gentryfizierung" ab, sagt Michael Hölscher. In der liefen die Stufen des Wandels nicht chronologisch ab, sondern nebeneinander. Rössel führt die Überlegung behutsam ein Stückchen weiter: "Ich denke, dass der Gentryfizierungsprozess nicht mehr ganz zutrifft." Er begründet es so: "Aufgewertet wurde der Stadtteil nach dem bisherigen Anschein vor allem durch eine Veränderung des Wohnungsmarktes und weniger durch die Menschen, die dort wohnen." Ergo gehört eine Wohnungsanalyse zur abschließenden Phase des Projekts. Vorerst steht lediglich der eindeutige Fakt: Wohnungen rund um die Nonnenstraße sind leichter zu vermieten als in anderen Plagwitzer Quartieren. Stellen sich also Fragen wie: Was vermissen die Menschen? Was weckt ihre Unzufriedenheit? Was stärkt die Zufriedenheit? Das erste Stichwort heißt: Grünflächen.

Das Projekt, das Hölscher und Rössel neben ihrer Promotion bzw. Habilitation (be-)treiben, wird einen längeren Atem brauchen. Dazu rechnet im anstehenden Wintersemester ein Stadtsoziologisches Kolloquium, das im 14-tägigen Rhythmus jeweils mittwochs nicht nur Studierenden, sondern ebenso den Plagwitzern und allen Interessierten offen steht. Und es wird weitere Studien geben- schon suchen die ersten Studenten in und um Plagwitz nach Themen für Magisterarbeiten. Das eine und andere zu finden, dürfte nicht allzu schwierig sein: Es liegen genügend Areale und Flächen zwischen Karl-Heine-Straße und Weißer Elster brach.