Was machen Sie als Friedens- und Konfliktforscherin und was zeichnet ihr Forschungsfeld aus?
Prof. Dr. Solveig Richter: Als Friedens- und Konfliktforscherin forsche ich über als auch für den Frieden. Einerseits beschäftige ich mich damit, wie Konflikte und Kriege entstehen und welche Grundbedingungen dafür notwendig sind, um nachhaltige Friedensordnungen zu schaffen. Das versuche ich natürlich mit einer gewissen Objektivität und Distanz. Andererseits kann ich mich als Friedens- und Konfliktforscherin nicht vom Konfliktgeschehen lösen, bin auch immer Teil dieser Dynamiken, ob etwa während meiner Feldforschung bei lokalen Gemeinschaften, oder auch als Wissenschaftlerin in Deutschland, die auch die Politik berät. Und auch ich bin immer wieder tief betroffen von Gewaltexzessen, die sich in Konflikten wie im Nahen Osten den Weg bahnen. Daher forsche und lehre ich doch auch dafür, mit meinem Wissen die Welt ein Stück friedlicher zu machen.
Was können Sie als Wissenschaftlerin in Bezug auf die vielen Krisen leisten?
Wir sehen ja gerade aktuell ganz besonders, wie stark Kriege und Konflikte emotional aufwühlen, polarisieren, mobilisieren. Ich sehe die Anforderung an uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler da vor allem darin, Orientierungswissen bereitzustellen und eine gewisse Nüchternheit in die Analyse zu bringen. Wir müssen immer wieder diskutieren, welche Politikoptionen wie machbar sind, das heißt nachhaltige Lösungen für Konflikte schaffen können, und unter welchen Bedingungen. Wir müssen dafür das Konfliktgeschehen einordnen, kontextualisieren, nüchtern analysieren, und damit einhergehend auch kritisch politische Entscheidungen begleiten. Das fällt angesichts von den Gewaltexzessen, die wir jetzt etwa im Nahen Osten gesehen haben, durchaus auch uns als Wissenschaftler:innen schwer. Das sehe ich aber durchaus als unsere Verantwortung und Pflicht an. Wenn wir das leisten können, dann haben wir auch einen Beitrag zu Frieden und Entwicklung geleistet.
Durch die Entwicklungen in Israel gibt es nun einen weiteren Krisenherd, der die Welt beschäftigt. Welche Auswirkungen hat das auf die Unterstützung der Ukraine?
Die Weltlage ist dadurch wesentlich komplexer geworden, da neue, sich überlagernde Konfliktlinien dazugekommen sind. Es entwickeln sich neue geopolitische Konstellationen, etwa zwischen Staaten, die Israel bedingungslos unterstützen und Staaten, die sich auf die Seite Palästinas geschlagen haben. Das hat insofern Auswirkungen auf die Ukraineunterstützung, als dass erstens der Krieg auf der Prioritätenliste der globalen Aufmerksamkeit nach unten rutscht, und sich dies mittelfristig auch in einer Reduktion etwa der militärischen Unterstützung für die Ukraine niederschlagen kann. Wir sehen die Diskussion ja schon in den USA. Und zweitens sind daraus resultierend Koalitionen, die die Ukraine unterstützen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des westlichen Bündnisses schwieriger geworden.
Im März sind Sie von der Bundesregierung in die Plattform „Wiederaufbau Ukraine“ berufen worden. Was macht diese Plattform und was kann sie erreichen?
Die Ukraineplattform ist ein breites Bündnis aus verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, etwa Wissenschaftler:innen, aber auch Städtepartnerschaften, Unternehmen und auch semi-staatliche Organisationen wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau. Die Plattform fördert die Kooperation dieser Akteure und die Vernetzung mit ukrainischen Partnerinnen und Partnern. Außerdem soll sie eine gute Koordination und Steuerung der vielfältigen Ansätze von Unterstützungsleistungen gegenüber der Ukraine im Hinblick auf den Wiederaufbau gewährleisten. Die Hoffnung ist, dass die Hilfsleistungen an die Ukraine nicht zu einem typischen „Mushroom-Effekt“ führen. Das heißt, dass Hilfe unkoordiniert in großen Mengen über ein Land verteilt wird, und letztlich zu einer Zunahme von Akteuren, die nur Hilfsgelder beziehen, führt. So etwas nährt dann auch Korruption auf lokaler, regionaler und staatlicher Ebene, anstatt dort anzukommen, wo Hilfe gebraucht wird, etwa bei Schulen oder lokalen Behörden, bei Akteuren der Zivilgesellschaft. Ziel ist daher, dass man die Hilfe in gezieltere Bahnen lenkt und eine Monitoring-Möglichkeit hat.
Welche Auswirkung hat der Krieg auf die Entwicklung der Ukraine und wo sehen Sie die Ukraine in zehn Jahren?
Wir wissen aus bisherigen Kriegen und Konflikten in der Welt, dass durch kriegerische Auseinandersetzungen die Entwicklungen von Ländern wirtschaftlich, sozial und politisch auf lange Zeit verzögert oder ausgehebelt werden. Das sehen wir in unterschiedlichen Bereichen, etwa in der Entwicklung kleinerer oder mittlerer Unternehmen und in der Schul- und Hochschulbildung. Wie viele Schüler:innen können im Moment in den betroffenen Regionen etwa eine schulische Bildung wahrnehmen? Das Land wird, so hoffentlich der Krieg bald beendet sein sollte, zunächst ein Nachkriegsland sein. Das bedeutet, es wird eine umfangreiche Aufarbeitung des Konflikts, zum Beispiel auf psychosozialer Ebene, die Wiederherstellung der Infrastruktur und die Umstellung der Kriegswirtschaft auf normale Wirtschaftsprozesse notwendig sein. Zehn Jahre sind dafür fast eine sehr kurzfristige Perspektive, das haben wir in den Ländern des Westlichen Balkan gesehen.
Wie sollte die Unterstützung an die Ukraine perspektivisch aussehen?
Die Unterstützung hier in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern sollte auch darin bestehen, dass man nicht nur eine kurzfristige Perspektive hat, sondern dass man sich wirklich ansieht: Wie können wir das Land langfristig auf dem Weg aus diesem Nachkriegsszenario, das hoffentlich irgendwann eintreten wird, unterstützen, wirtschaftlich und politisch? Es ist notwendig, der Ukraine eine mittel- und langfristige Wiederaufbauperspektive zu bieten, die dem Land die Integration in die EU ermöglicht und gleichzeitig verhindert, dass sich im Schatten dieses Krieges undemokratische Strukturen etablieren und Netzwerke bilden.
Und wie realistisch ist eine EU-Mitgliedschaft?
Zunächst müssen wir uns vor Augen führen, dass die Ukraine ein ungeheuer großes Land ist. Wir reden hier nicht über die Integration von kleinen Staaten, wie etwa den Westbalkanstaaten. Das bringt für die EU in der Hinsicht erst mal eine große Herausforderung mit sich. Politisch, denke ich, gibt es überhaupt keinen Zweifel an der Beitrittsperspektive. Wir sehen das in Zustimmung zu der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen. Aber der EU-Erweiterungsprozess ist nicht nur ein politischer Prozess, sondern auch ein stark technokratischer Prozess. Es geht um die Übernahme des sogenannten Acquis Communautaire, von allen Richtlinien, Verordnungen, von EU-Recht, und die Integration der Ukraine in den europäischen Markt und in alle damit verbundenen Rechte und Pflichten. Hier steckt der Teufel oft im Detail und sozusagen in den Kapazitäten der Verwaltung. Die EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist politisch gewünscht und dadurch auch realistisch. Das heißt, es ist weniger eine Frage des Ob, sondern nur des Wann.