Pressemitteilung 2003/046 vom

Gespräch mit Prof. Dr. med. Stefan Schubert, Leiter der Abteilung Infektions- und Tropenmedizin im Zentrum für Innere Medizin am Universitätsklinikum Leipzig

Vor über 25 Jahren - 1977 in Somalia - trat der global letzte Pockenfall auf. 1980 wurde die Welt für pockenfrei erklärt. Die Menschheit glaubte, sich nach Jahrhunderten der Angst endgültig von einer ihrer schlimmsten Geißeln befreit zu haben. Doch nun lebt die Sorge auf, dass Pockenviren durch Terroristen als biologische Waffe verwendet werden könnten. Plötzlich steht die vergessene Krankheit wieder im Mittelpunkt des Interesses. Anlass für unser Gespräch mit Prof. Dr. med. Stefan Schubert im Zentrum für Innere Medizin am Universitätsklinikum Leipzig, Fachbereich Infektions- und Tropenmedizin.

Wie real, Herr Prof. Schubert, ist die Gefahr einer neuen Pockenepidemie. Ist es tatsächlich gerechtfertigt, dass dieses Krankheit jetzt so in die Schlagzeilen rückt?

Eigentlich ist dies keine medizinische, sondern eine politische Frage. Wie real sind die Gefahren des Terrorismus? Wenn dem Terrorismus der Nährboden entzogen würde, müssten wir uns mit einer ausgerotteten Krankheit nicht mehr befassen.

Aber wenn man es realistisch betrachtet, ist es nicht mehr auszuschließen, dass Pockenviren, obwohl offiziell weltweit nur noch in zwei Laboratorien verwahrt, in die falschen Hände gelangen oder bereits gelangt sind. Zudem sind diese Viren relativ stabil. So bleiben sie bei einer Lagerung bei minus 20°C über Jahrzehnte hin infektiös, selbst bei Raumtemperatur über Monate. Außerdem wäre es relativ einfach, die Viren unter die Menschen zu bringen. Stellen Sie sich vor, sie würden in pulverisierter Form - wie auch immer - an Orten großer Menschenansammlung verstreut oder in die Luft geblasen...

Immer wieder wird jetzt über flächendeckende Impfungen diskutiert. Impfstoffe werden herangeschafft, medizinisches Personal soll geschult werden. Mit welchen Überlegungen verfolgen Sie diese Bemühungen?

Lassen Sie mich bitte noch etwas weiter ausholen: Angeblich wird gegenwärtig an etwa 50 verschiedenen Erregern hinsichtlich Eignung als biologische Waffen geforscht. Und vielleicht werden in den Labors dieser Welt bereits welche gezüchtet, die der Öffentlichkeit überhaupt noch nicht bekannt sind. Insofern kann keine Bevölkerung zuverlässig gegen einen Angriff mit biologischen Waffen geschützt werden. Diese Tatsache darf nicht dadurch vertuscht werden, dass es bei Pocken eine Impfung gibt. Selbst wenn jeder Mensch zuverlässig gegen diese Seuche geschützt wäre - es bleiben Dutzende anderer Gefahren seitens möglicher bioterroristischer Anschläge. Insofern ist die gegenwärtige Fokussierung auf das Pockenvirus nicht unproblematisch.

Reden wir trotzdem über ein paar Details zur Pocken-Impfung. Wie groß sind die zu befürchtenden Nebenwirkungen?

Nicht unerheblich. Es ist mit etwa ein bis drei Todesfällen pro einer Million Impfungen zu rechnen und mit einer höheren Anzahl bleibender Schäden durch schwere Entzündungen des Gehirns. Wenn jetzt in eine komplett nicht-immune Erwachsenen-Bevölkerung hineingeimpft würde, wäre die Komplikationsrate voraussichtlich noch höher. Die Pockenimpfung galt bereits damals als diejenige mit den häufigsten schweren Nebenwirkungen, und die impfenden Ärzte waren daher sehr froh, als sie vor über 20 Jahren durch die Ausrottung der Pocken weltweit eingestellt werden konnte.

Wenn das Horrorszenario denn eintreffen würde und Pocken wieder aufträten: Stimmen Sie dann für die flächendeckende Impfung?

Nein. Durch sogenannte "Abriegelungsimpfungen" sowie strikte Isolier- und Desinfektions- bzw. Sterilisationsmaßnahmen lassen sich Ausbrüche örtlich begrenzen. Während der Inkubation, die mindestens acht Tage beträgt, ist die Impfung noch wirksam ("Inkubationsimpfung"). Dies ist auch das Prinzip der "Abriegelungsimpfungen" - es werden sofort Kontaktpersonen und Personen im Umkreis von Erkrankten geimpft. Es muss aber alles sehr rasch erfolgen.

Im November 1982 wurde in der BRD das Gesetz über die Aufhebung der Pockenschutzimpfung verabschiedet und Mitte 1983 in Kraft gesetzt. Die DDR stellte die Impfung nur wenig später ein. Dürfen Ältere noch auf Immunität hoffen?

Die Schutzdauer der Impfung beträgt drei bis zehn Jahre - der Schutz ist somit vorüber. Ob heute bei Einzelpersonen, z. B. bei Labormitarbeitern, die mit infektiösem Material Umgang hatten und dadurch damals alle drei Jahre geimpft wurden, noch eine "Restimmunität" besteht, welche zwar die Erkrankung nicht verhindern, den Krankheitsverlauf jedoch günstig beeinflussen kann, ist schwer abzuschätzen. Da das Immunsystem über sogenannte "Erinnerungszellen" verfügt, ist es nicht ganz ausgeschlossen - von einem kompletten Schutz kann aber bei niemandem mehr ausgegangen werden.

Auch wenn der Anlass erschreckend ist - die Infektionskrankheiten sind wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Was erwarten Sie davon?

Das schlaglichtartige Interesse an Infektionskrankheiten ist positiv zu bewerten. Erforschung und Lehre der Infektionskrankheiten sind ja in Deutschland - im Gegensatz beispielsweise zu den USA - in den letzten Jahrzehnten eher etwas vernachlässigt worden. Würde hier etwa ebenso gegen die Virusgrippe geimpft wie in manch anderen Ländern, wären nicht soviel schwere Erkrankungen und Todesfälle zu beklagen. Die aktuelle Diskussion wirft aber auch Fragen nach dem rationellen Umgang mit Impfstoffen auf. Die Gefahr einer flächenhaften Pockenepidemie bei uns durch Bioterrorismus ist meines Erachtens weitaus niedriger einzuschätzen als die Gefahr z. B. einer Diphtherieepidemie, wie sie sich erst vor etwa acht bis zehn Jahren in Russland ereignet hatte, zumal gegenwärtig nur etwa 30 Prozent unserer Bevölkerung sicher vor Diphtherie geschützt sind. Weshalb werden aber dann für einen bioterroristischen Eventualfall in großem Maße Impfstoffe angeschafft, die voraussichtlich nie in diesem Umfang gebraucht werden bzw. eingesetzt werden sollten, während man für einen Diphtherieausbruch wahrscheinlich nicht genügend Impfstoffe bzw. Antiseren für eine sofortige Beherrschung zur Verfügung hätte?

Durch die aktuelle Diskussion findet aber auch ein Nachdenken über die angewachsene Gefahr von Terrorismus insgesamt statt und darüber, ob Maßnahmen wie die Einlagerung von Pockenimpfstoffen wirklich das vordringlichste Gebot der Stunde sind. Werden die Ursachen von Terrorismus beseitigt - um dies nochmals zum Ausdruck zu bringen - braucht man nicht über Pockenimpfungen nachzudenken. Aus dieser Sicht befürworte sehr ich die Bemühungen der Bundesregierung und der Kräfte in aller Welt um Abwendung eines neuen Irak-Krieges und um friedliche Konfliktlösungen.