Pressemitteilung 2002/051 vom

Im Institut für Indologie und Zentralasienwissenschaften der Universität Leipzig wurde die Wiederentdeckung einer Sammlung von Lithografien zur indischen Mythologie aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, die der langjährige Ordinarius Johannes Hertel angelegt hatte, zum Anlass für neue kulturwissenschaftliche Studien wie auch zur Etablierung eines Seminarthemas genommen.

Nebenher wurde auch noch ein Kapitel zur Geschichte der grafischen Industrie in Sachsen geschrieben.

Die erste Suche in Dresdner Archiven brachte nichts. Doch als Dr. Maria Schetelich das Internet mit den Worten "Kunstanstalten" und "May" fütterte, spuckte die Suchmaschine tatsächlich eine Adresse aus. In Aschaffenburg fand die Indologin der Universität Leipzig jene Aktiengesellschaft, die sie gesucht hatte. Bis dahin wusste Frau Dr. Schetelich lediglich, dass die Kunstanstalten May AG Dresden in den 20er Jahren auch Farbdrucke mit indischen Motiven gedruckt und vertrieben hatte. 54 davon hatte sie im Nachlass von Prof. Johannes Hertel, von 1914 bis zu seiner Emeritierung 1937 Inhaber des Lehrstuhls für Indologie an der Universität Leipzig, gefunden. "Eine wahre Kostbarkeit", schätzt Dr. Schetelich den Wert der 54 Lithographien ein - und das in mehrfacher Hinsicht.

Die Mappe mit den 54 Blättern entpuppt sich als Schlüssel zu einem Stück sächsischer Industriegeschichte, die zu Zeiten der Weimarer Republik bis nach Indien reichte und sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Süddeutschland fortsetzte. Sie beleuchtet den Wandel in der indischen Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts und reißt das Schicksal von vier indischen Künstlern an. Und die Mappe öffnet den Blick in die visuelle Kultur Indiens, die sich seit Mitte der 80er Jahre als separates Forschungsgebiet abzeichnet und in dem die Drucke der Hertelschen Sammlung ihren Platz finden dürften.

Bislang sind umfangreiche Sammlungen von indischen Farbdrucken aus dem British Museum und dem Victoria & Albert Museum in London sowie in mittlerer Größe aus den Museen für Völkerkunde in Hamburg und Berlin bekannt. Im Vergleich - beispielsweise zum Hamburger Bestand von 1.223 Lithografien, den Helga Anton-Warrior 1986 für ihre Untersuchung über Farbdrucke als "volkstümliche Kunstform des 20. Jahrhunderts" nutzen konnte - nimmt sich die Zahl von 54 Leipziger Drucken zwar bescheiden aus. Aber die Hertelsche Sammlung weist in ihrer - auf den ersten Blick zufälligen, auf den zweiten jedoch ausgewogenen - Zusammenschau eine stilistische Vielfalt auf, die ihresgleichen sucht. Zudem stammen Hertels Drucke aus den 20er Jahren, während sich die genannten größeren Sammlungen vornehmlich auf der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aufbauen. In Hamburg zum Beispiel sind lediglich 17 der 1.223 Exemplare in die Zeit der Leipziger Drucke zu datieren.

Von den 54 Lithografien, die zwischen 1920 und 1930 gedruckt und verkauft wurden, hat Prof. Johannes Hertel 14 analysiert, hauptsächlich nahm er sich religiöser Themen in seiner "Beschreibung der indischen Bilder" an. Daneben verwies Prof. Hertel auf den europäischen Einfluss in der indischen Malerei. "Über der Gruppe streuen zwei Apsarasen (nach europäischer Weise geflügelt!) Blumen herab", so eine Notiz.

Zur Darstellung der Götter gehört auch ein Abbild Shivas mit der Ganga, dem Himmelsstrom, die als übermächtiger Wasserfall herab stürzt, sich in Shivas dichtem Haargeflecht verfängt und verläuft und nun als gezähmtes Rinnsal zur Erde fließt. Abbildungen moralischer, historischer und gesellschaftlicher Szenen runden die Palette der Themen ab. So zeichnet eine Lithografie das Bild der indischen Wunschkuh, die zugleich als Heimstatt aller Götter und als Inbegriff all jener Dinge gilt, die ein Mensch im Leben braucht. Ein Bild übrigens, das - zum Beispiel mit der Szene des frommen Inders, der die Milch aus dem Milchmeer (dem Euter) an Mitglieder anderer Religionen verteilt - zu den ausdrucksstärksten und auch für Europäer leicht zu dechiffrierenden der Sammlung zählt. Eine weitere Lithografie porträtiert die indischen Fürsten, die sich 1911 in Delhi zur Einführung des britischen Königs Georg V. in das Amt des indischen Vizekönigs trafen - und jeder dieser Fürsten ist in seinen Gesichtszügen, seiner Kleidung und seinem Kopfschmuck zu erkennen. Eine andere bildet eine Inderin mit Queen-Victoria-Frisur und indischem Schirm ab - und zeigt den Mix der beiden Kulturen. Eine nächste zeigt eine Bootsszene, die ebenso eine vornehme Prinzessin mit ihrer Gespielin als auch die Göttin des gesprochenen heiligen Wortes, der Gelehrsamkeit und der Rede mit einer Begleiterin darstellen könnte. "Das Problem bei der Bestimmung der Farbdrucke ist", so Dr. Schetelich, "angesichts der unwahrscheinlichen Fülle an Mythen eindeutig zu sagen: Das ist das." Doch gleich welchen Inhalts die Lithografien sind, "eine bildhafte Darstellung war in einer weitgehend analphabetischen Gesellschaft unverzichtbar".

Den Sinn der Anschaffung, die Prof. Johannes Hertel Mitte bis Ende der 20er Jahre tätigte, benennt Dr. Schetelich: "Um seinen Studenten Anschauungsmaterial zur indischen Religionsgeschichte zu vermitteln." In ähnlicher Weise wie der vormalige Lehrstuhlinhaber nimmt sie sich der Drucke an: Nach der Wiederentdeckung hat sie die matten und glänzenden Rasterfarbdrucke, die Chromolithografien und Chromokartons zur Grundlage für ein Seminar am jetzigen Institut für Indologie und Zentralasienwissenschaften gemacht. Ein Seminar, das die 54 Lithografien jedoch nicht ausschließlich zur Betrachtung heranzog, sondern vor allem nach ihrer Herkunft und ihrer Aussage befragte.

Der erste Fingerzeig zur Provenienz fand sich noch in der Mappe selbst: Eine Geschäftskarte belegte, die Drucke bezog Prof. Hertel von der "Kunstanstalten May Aktiengesellschaft, Glashütter Straße 58, Fernruf 31821" - einer Firma, die ihren Sitz nach dem Zweiten Weltkrieg via Fürther Filiale nach Aschaffenburg verlegte und die seit inzwischen 155 Jahren hochwertige Kunstdrucke verlegt. Auf welchen Wegen die Vorlagen aus Indien - mit hoher Wahrscheinlichkeit Steinmatrizen und Kupferplatten - nach Dresden kamen, liegt allerdings noch im Dunklen.

Für Frau Dr. Schetelich und ihr Seminar ist damit die Gelegenheit gegeben, ihre Forschungen zu präsentieren. Sie haben den Faden, den Prof. Hertel einst spann, aufgenommen: die für europäische Augen schreiend bunten Farbdrucke als Teil der indischen Alltagskultur wahr und als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Studien ernst zu nehmen. Die Phase, da Calender Art und Poster Art - die als heutige Bildformen in Gestaltung und Verwendung den indischen Farbdrucken der 20er entsprechen - ins Reich des Kitsches verbannt und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit für unwürdig erachtet wurden, sind vorbei. Sozial- und Kulturwissenschaft räumen Trivialliteratur und -kunst inzwischen ihren Platz in der Alltagskultur ein. Die Bresche haben Kunstwissenschaftler wie Partha Mitter, Tapati Thakurta, Kajri Jain, Walter und Mildred Archer sowie Richard Blurton und Christopher Pinney in den letzten 20 Jahren geschlagen.

Die Farbdrucke, die sich in Hertels Nachlass fanden, reproduzieren Gemälde der bekannten indischen Maler N. Gopalarow, B. P. Banarjee und Vasudeo Pandy sowie von Ravi Varma. Mit dieser Palette kann die Hertelsche Sammlung das Forschungsgebiet um einen fundierten Einblick in die Strömungen und Diskurse der indischen Kunst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bereichern. Sie legt Zeugnis von jener Periode der indischen Kunstgeschichte ab, in der sich die nationale Kunst und ihre Vertreter heftig um Tradition und Moderne, um nationale Kunst und fremde Kunst stritten und die in der Differenzierung in eine "westliche" und eine "indische" Richtung endete.