Pressemitteilung 2004/023 vom

Das ursprünglich auf drei Jahre befristete Modellprojekt "Erprobung neuer Hilfeangebote für Kinder mit abweichendem Verhalten" wird vom Sächsischen Sozialministerium weiter gefördert. ESCAPE öffnet also weiterhin seine Türen für delinquente Kinder und Jugendliche. Und die Zahl der Standorte ist von drei auf fünf gestiegen.

"Na, nach 'ner Zeit lang sind die Eltern dran gewöhnt. Da erschrecken die gar nicht mehr, wenn's heißt: 'Guten Tag, Polizeirevier, wir haben ihren Sohn bei uns auf der Wache sitzen.' Da sagen die dann: 'Na toll, schon wieder.' Aber, wie gesagt, nach 'ner Zeit. Aber die erste Zeit; hab' ich schon Ärger abgekriegt. Aber ich mein', meine Eltern waren auch dran gewöhnt, dass ich ständig mit den Bullen zu tun hab'."

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Der Junge, der das gesagt hat, ist unter 14 Jahren - und in Deutschland strafunmündig. Er gehört zu den 55 Kindern, die zwischen Juli 2000 und März 2003 ESCAPE durchlaufen haben. Das sächsische Modellprojekt galt der "Erprobung neuer Hilfeangebote für Kinder mit abweichendem Verhalten". Der Fokus richtete sich auf Kinder, die durch Diebstahl, Sachbeschädigung oder Ruhestörung, aber auch durch Körperverletzung und Raub mehrfach straffällig in Erscheinung getreten sind. "Mehrfach auffälliges Verhalten kann ein ernst zu nehmendes Indiz für belastete Lebenssituationen von Kindern sein", sagt der Leipziger Erziehungswissenschaftler Tobias Strieder. "Die Kinder, die auf Grund dieses Indizes ins Projekt kamen, waren überdurchschnittlich risikobelastet; sie hatten einen erhöhten Hilfebedarf."

Die Grunddaten des Projektes verdeutlichen die Faktoren, die ESCAPE-Kinder belasten: Zu 48 Prozent leben sie in alleinerziehenden Familien (zum Vergleich: 32 Prozent im Land Sachsen), 24 Prozent in Stiefelternfamilien (11 Prozent im Land Sachsen); 40 Prozent der Eltern sind von Arbeitslosigkeit (18,5 Prozent) oder Sozialhilfe betroffen (2,8 Prozent); 32 Prozent haben mindestens eine Schulklasse wiederholt (2,6 Prozent) - davon wiederum 81 Prozent bereits in der Grundschule. Zudem schwänzen oder verweigern 22 Prozent die Schule; 20 Prozent haben die Kinder- und Jugendpsychiatrie beansprucht und 50 Prozent bereits Leistungen der Jugendhilfe. "Aber", betont Strieder, "bisher gab es keine Hilfen wie intensive Einzelfallhilfe und methodische Gruppenarbeit, die grundlegend bei den Bedürfnissen des Kindes ansetzen."

Tobias Strieder hat das Projekt koordiniert und betreut, die wissenschaftliche Unterstützung seitens der Universität Leipzig ging von Prof. Christian von Wolffersdorff vom Lehrstuhl für Sozialpädagogik aus. Jetzt freut sich Strieder: "ESCAPE geht an allen drei Standorten weiter." Im "ländlichen" Auerbach und im "Plattenviertel" Dresden-Prohlis unter dem bekannten Logo des Skateboard-Fahrers, der den Absprung wagt - wobei sich im Vogtland mit Reichenbach und Adorf/Oelsnitz zwei weitere Kommunen dem nun erprobten Konzept anschlossen. Und im "mittelstädtischen" Riesa findet ESCAPE unter dem neuen Namen Kids and Parents K.A.P. seine Fortsetzung.

"ESCAPE hat uns gezeigt, welche Ressourcen bisher ungenutzt blieben." Das Zitat stammt aus einer der elf Magisterarbeiten, die im Umfeld des Projektes an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig entstanden und von denen wiederum sieben unmittelbar in den Abschlussbericht eingeflossen sind. Es verdeutlicht die Perspektive, die aus Sicht des Jugendamtes im Vogtlandkreis in ESCAPE liegt: Neun- bis 14-jährige Kinder, die im Übergang zwischen Kindheit und Jugend durch straftatrelevantes Verhalten auffallen, nicht in der so genannten institutionellen Lücke versinken zu lassen. Die klafft immer dann, wenn die Kids schwer erreichbar sind - weil sie sich von Kinderangeboten unter- und von Jugendofferten überfordert fühlen und weil ihnen der Zugang zu passenden Hilfen durch hohe Hürden versperrt bleibt.

An diesem Knackpunkt setzt ESCAPE an. Die beteiligten Sozialarbeiter, Pädagogen, Jugendämter, Polizisten, Studenten, Wissenschaftler haben ihre Kraft in den Aufbau von Netzwerken um und für das Kind und seine Familie gesteckt - Netze zum Auffangen und zum Austoben. "ESCAPE versteht sich als Gesamtansatz des Tätigwerdens im Bereich der Kinderdelinquenz", erläutert Tobias Strieder. Als grundlegende Voraussetzung für das Gelingen wurden unterschiedlichste Zugangswege und verschiedenste Institutionen einbezogen, um die Situation des Kindes und seinen Hilfebedarf zu klären. Entscheidend war es, die divergierenden Handlungsaufträge von Polizei, Jugendamt und Schule in Einklang zu bringen - im Interesse der einen gemeinsamen Zielstellung: auffällige Kinder ins Modellprojekt ESCAPE zu holen, um ihnen den Ausstieg aus dem Einstieg in Normverletzung und Kriminalität zu ermöglichen. Dabei zeigte sich im Bereich Schule eine deutliche Diskrepanz zwischen geäußertem Bedarf und tatsächlicher Resonanz, die Zusammenarbeit blieb hinter den Erwartungen zurück.

Am Beginn der folgenden Phasen stand eine Vereinbarung zwischen Kind, Eltern und ESCAPE - auf diese Art verpflichteten sich 55 Kinder, regelmäßig und über die Laufzeit von drei (Auerbach) bzw. vier Monaten (Dresden, Riesa) hinweg zu kommen; ihre Eltern erklärten sich zur Mitarbeit bereit. In der anschließenden Intensivphase und Integrationsphase wurden Einzel- und Gruppenaktivitäten, Eltern- und Familienarbeit, Erlebnispädagogik und Vereinsfreizeit eingesetzt. Mit den Kindern wurde sowohl thematisch als auch freizeit- und spielbetont gearbeitet. Gerade durch die inhaltlich-thematischen Anteile unterscheidet sich ESCAPE von herkömmlichen Freizeitangeboten: Verhaltenstraining, Übungen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, zu Kritikfähigkeit und Frustrationstoleranz und zur Kommunikation wurden ebenso genutzt wie schulische Unterstützung und medienpädagogische Ansätze. "Drei Jahre ESCAPE liefern keine Patentrezepte für den Umgang mit mehrfach auffälligen Kindern", resümiert Tobias Strieder. "Sehr wohl aber hat ESCAPE gezeigt, dass es fachliche Argumente für ein pädagogisches Handlungsverständnis im Umgang mit delinquenten Kindern gibt." Abweichendes Verhalten frühzeitig als Signal seitens der Kinder wahrzunehmen und ihnen frühzeitig Hilfen anzubieten, das ist die Chance, um wirksam einzugreifen.

ESCAPE war kurzzeitig befristet. Somit ebnete die Integrationsphase den Übergang in bestehende offene Freizeitangebote, Treffs und Vereine, aber auch in die weitere Jugendhilfe. "Von Anfang an", betont Tobias Strieder, "hatte ESCAPE den Anspruch, sozial zu integrieren." In Dresden beispielsweise ist ein Junge gleich nach der ersten Trainingseinheit "hängen geblieben": Bei der Rallye zum Kennenlernen der Freizeitklubs im Stadtteil Prohlis war er so gefesselt vom Zirkus, dass er fortan Mühe hatte, die Zeit für ESCAPE aufzubringen.

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Interviewer: "Und wie stellst du dir das vor, wenn du mal älter bist, so 20 oder so, wenn du mal erwachsen bist, hast du da irgendwelche Ziele?"
Kind A: "Familie gründen, arbeiten gehen - und leben."
Interviewer: "Und wie leben?"
Kind A: "Ohne Scheiße zu bauen, ganz sauberes Leben."