Herr Professor Lengfeld, was heißt „soziale Gerechtigkeit“?
Gerechtigkeit ist ein schillernder Begriff, der sehr verschieden gebraucht wird. Sehr oft geht es dabei um die Verteilung von knappen Gütern. Wer da Gerechtigkeit einfordert, erhebt den moralischen Anspruch, dass er das bekommt, was ihm zusteht. Interessant ist, dass die Menschen dabei verschiedene Prinzipien für moralisch richtig halten, je nachdem, welche gesellschaftliche Stellung sie innehaben. Das sieht man gerade in der Debatte um den SPD-Vorschlag für die neue „Grundrente“: Unternehmer lehnen sie ab, weil sie wollen, dass gerechte Renten strikt nach vorheriger Arbeitsleistung bestimmt werden. Die Gewerkschaften finden den Vorschlag dagegen gut, weil sie Kriterien der Gleichheit und der Bedarfssicherung für sozial gerecht halten.
Offenbar gibt es in Frankreich große Teile der Bevölkerung, die an der sozialen Gerechtigkeit zweifeln, die sogenannten „Gelbwesten-Proteste“ dauern an. Ist das der Anfang einer größeren sozialen Bewegung? Ist eine solche Bewegung auch in Deutschland denk- oder bereits erkennbar?
Ich bin kein Kenner der französischen Gesellschaft. Aber mein Eindruck ist, dass die Gelbwesten entstanden sind, weil sich ein Teil der Bevölkerung durch die Regierung ungerecht behandelt fühlte. Die Erhöhung der Benzinpreise scheint mir nur der Auslöser gewesen zu sein. Der eigentliche Konflikt dahinter war Präsident Macrons Arbeitsmarktreform, die schmerzliche Einschnitte für Arbeitnehmer bedeutet. In Deutschland haben wir eine komplett andere Situation. Unsere Arbeitsmarktreformen liegen 15 Jahre zurück. Die Einkommen wachsen derzeit weiter, die Arbeitslosigkeit ist gering. Was soll die Deutschen heute dazu bringen, sich in Massen gelbe Westen überzuziehen?
Aus der SPD ist zu hören, die Partei wolle wieder die Anwältin für soziale Gerechtigkeit sein. Können Parteien mit dem Thema bei den anstehenden Europa- und Landtagswahlen politisch punkten?
Ich sehe nicht, dass die Parteien mit sozialer Gerechtigkeit derzeit bei den Wählern besonders punkten könnten. Die SPD ist da in einer Sonderrolle. Sie versucht, ich möchte fast sagen, verzweifelt, den Abwärtstrend in der Wählergunst umzukehren. Dabei knüpft sie an ihr traditionelles Profil an, nämlich soziale Gerechtigkeit durch mehr Umverteilung zu erreichen. Ob das hilft, bundesweit bei Wahlen wieder über 30 Prozent zu kommen wie noch 2005, halte ich, angesichts der derzeit guten wirtschaftlichen Lage und einer recht lebendigen Partei links von der SPD, für unwahrscheinlich.
Gute Sozialpolitik wird von vielen Politikern auch als Mittel gegen das Erstarken der AfD und gegen eine Spaltung der Gesellschaft gesehen. Nun haben Sie aber in Ihren Studien herausgefunden, dass die Motive der AfD-Wähler überwiegend keine wirtschaftlichen sind. Kann man daraus schließen, dass soziale Gerechtigkeit nicht das entscheidende Thema für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist?
Der Glaube der Menschen, es gehe in der Gesellschaft gerecht zu, ist wichtig für den sozialen Zusammenhalt, aber er allein reicht nicht aus. Unsere Studien zeigen, dass das Erstarken der AfD nur wenig mit konkreten Verteilungsfragen zu tun hat. Was deren Sympathisanten wurmt, ist die Richtung, in der sich die Gesellschaft derzeit kulturell entwickelt, etwa Offenheit für Zuwanderung, mehr europäische Integration, mehr Multikulturalismus, zunehmende Forderungen nach Verzicht auf umweltbelastendes Konsumverhalten für den Klimaschutz, Akzeptanz unterschiedlicher geschlechtlicher Identitäten. Das alles passiert faktisch, aber ein Teil der Bevölkerung will es nicht. Ich habe diese Menschen deshalb einmal, bar jeder Bewertung, als kulturelle Modernisierungsverlierer bezeichnet. Sie nutzen jetzt ihr Wahlrecht, um mit der AfD eine Partei zu unterstützen, die verspricht, diese faktische kulturelle Entwicklung umzukehren. Sozialpolitik scheint in diesem Konflikt fast bedeutungslos zu sein.
Hinweis:
Prof. Dr. Holger Lengfeld ist einer von mehr als 150 Experten der Universität Leipzig, auf deren Fachwissen Sie mithilfe unseres Expertendienstes zurückgreifen können.