Pressemitteilung 2004/035 vom

44 Doktoranden gehören zum Promotionskolleg der Universität Leipzig mit dem Thema "Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart". Sie gehen dabei soziologischen, linguistischen, ökonomischen, historischen und geografischen Studien nach. Zu ihnen gehört auch Margarita Aleksahhina aus Estland. Sie untersucht Identifikationsprozesse bei der russischsprachigen Bevölkerung in Estland.

Margarita Aleksahhina kommt aus der estnischen Hauptstadt Tallinn. Derzeit promoviert die Historikerin und Anglistin an der Universität Leipzig im Rahmen des Studienganges "Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart", der am Zentrum für Höhere Studien (ZHS) angesiedelt ist. Sie hat sich für eine geschichtswissenschaftliche Dissertation entschieden. Die steht unter dem Arbeitstitel "Identifikationsprozesse bei der russischsprachigen Bevölkerung in Estland".

Vor dem Hintergrund vielfacher Konflikte weltweit beschäftigen sich Geisteswissenschaftler mit der Frage, welche Konflikte warum gewalttätige Formen annehmen und welche Konflikte warum gewaltfrei bleiben. Auch Margarita Aleksahhina konzentriert ihre Untersuchung auf diese Problemstellung. Ihre Überlegungen führen sie zuerst zu den Beziehungen zwischen der estnischen und der russischen Bevölkerung während des Aufbaus des Nationalstaates in Estland. Auf dieser Basis wendet sie sich den Identifikationsprozessen der 29 Prozent der Bevölkerung zu, die Russen sind. Darauf aufbauend sucht sie schließlich die Antwort auf die Frage: Warum konnte der Ethnokonflikt, der durchaus auch in Estland auftrat, ohne Gewalt ausgetragen werden?

Ohne den Ergebnissen ihrer Untersuchungen vorzugreifen, sieht Margarita Aleksahhina die gewaltfreie Entwicklung unter anderem in der Tatsache begründet: Gesetze wie das Sprach-, Bürgerschafts- und Ausländergesetz, die im Zuge der Formierung des Nationalstaates 1995 verabschiedet wurden, benachteiligen zwar Angehörige anderer ethnischer Gruppen. Aber sie beinhalten keine Diskriminierung auf Grund des ethnischen Prinzips, sie ermöglichen die Einbürgerung im Zuge eines Naturalisationsverfahrens. Trotzdem lässt sich einschätzen, dass die Bedeutung des Bürgergesetzes in der "Aufnahme in die Nation" liegt, die den Angehörigen einer Kultur und den im Lande integrierten Minderheiten gestattet wird. Diesem Prinzip zufolge müssen alle Einwohner, die nach 1940 nach Estland kamen bzw. die nicht als Nachfahren der estnischen Bevölkerung des Vorkriegszeit gelten, den Weg der Naturalisation antreten - für diese ist eine Sprachprüfung, ein Mindestaufenthalt von fünf Jahren im Land sowie ein bestimmtes Einkommen erforderlich. Zudem schreibt das Sprachgesetz - für öffentliche Ämter - Tests zum Nachweis der Beherrschung der offiziellen Landessprache Estnisch vor. Und auch wenn diese Regelung die soziale Mobilität der Russen erheblich behindert, ist die Mehrheit von ihnen von der Notwendigkeit des Spracherwerbs überzeugt.

Aus dieser Konstellation heraus setzt sich die Historikerin mit den politischen Ereignissen und Prozessen bei der Formierung des Nationalstaates auseinander - ihr Leitfaden sind dabei die Fragen: Wie werden die Veränderungen bezüglich des neuen Status in der Gesellschaft von der russischsprachigen Bevölkerung aufgenommen? Wie werden die Veränderungen reflektiert? Wie repräsentieren sich die neuen Identitäten? Die Historikerin ringt um Antworten. "Die Welt verändert sich, und ich möchte mehr davon wissen."