Pressemitteilung 2002/087 vom

Ablai Keyid - Tobolsk - St. Petersburg - Halle/S. - Leipzig:
Der verschlungene Weg mongolischer Handschriften

"Diese Papiere sind in grossen Rollen aufgewickelt, nach dem Gebrauch der Alten, und nicht wie unsere Bücher eingebunden gewesen. Es möchten von der selben Art wohl ein paar hundert Blätter in Europa, bey der Schweden Zurückkunfft aus der Gefangenschaft, hinein gekommen seyn; Aber weil solche hier doch nicht können verdolmetscht werden, so ist es schon genug, dass der Charakter dem Publico, zur Unterscheidung von anderer Orientalischen Völcker Schreib-Art, vorgestellt wird."

Mit diesen Zeilen beschreibt Philipp Johann von Strahlenberg (1676 bis 1747) anno 1730 den verschlungenen Pfad, den tibetische und mongolische Handschriften, meist buddhistischer Natur, zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach Europa nahmen. Elf Jahre, zwischen 1711 und 1722, hatte der schwedische Offizier in Sibirien gelebt - als Internierter des Großen Nordischen Krieges zwischen Rußland und Schweden (1700 bis 21). Wie auch andere seiner Mitstreiter scharte er sich um die erste moderne Schule Sibiriens in Tobolsk. Die hatte 1711 Curt Friedrich von Wreech im Sinne der Frühaufklärung gegründet. Von Wreech, aus brandenburgischem Adel, hatte als Kapitän ebenfalls auf schwedischer Seite gedient und geriet bereits 1709 bei Poltawa in Gefangenschaft. Über Moskau und Klinow kam er nach Tobolsk, wo er sich ans Schulwerk machte. Von Wreech folgte dem Lehrsystem des Theologen und Pädagogen August Hermann Francke, der seit 1692 als Professor der orientalischen Sprachen an der Alma Mater Hallensis forschte und lehrte.

Francke hatte sich im Geist von Leibniz' "Propaganda für den reinen Glauben" und "Wachstum realer Wissenschaften und Vermehrung gemeinen Nutzens" den Völkern des Ostens zugewandt. Die Offenheit gegenüber der fernen Welt, die von Franckes Lehrstuhl ebenso wie von den nach ihm benannten Stiftungen ausging, bewirkte, dass selbst Mongolen zum Studium nach Halle/S. kamen. Den umgekehrten Weg ging wiederum Daniel Gottlieb Messerschmidt. Vermittelt durch Francke gehörte der Hallenser Absolvent zu jenen - meist deutschen - Reisenden, die der russische Zar Peter I. aussandte, die unerschlossenen sibirischen Weiten zu erkunden. Messerschmidt brach 1720 im Auftrag der Russischen Akademie zu einer siebenjährigen Forschungsreise auf, die ihm die Anerkennung als "wissenschaftlicher Entdecker Sibiriens" eintrug.

Es war ein starkes Band, gewoben aus dem humanistischen Geist der christlich-reformierten Mission und aus den Sibirien-Plänen des Zaren, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts das innere Asien mit der Universitätsstadt an der Saale verknüpfte. Wie auch immer die feinen Fäden zwischen den einzelnen Akteuren gesponnen waren - im Detail lässt sich das bislang nicht rekonstruieren - , eines ist deutlich: Die Reputation, die sich der Pietist August Hermann Francke erworben hatte, machte es für Forscher, Reisende und Gelehrte seiner Zeit selbstverständlich, "Rarissima" und "Curiosa" aus aller Herren Länder für die Kunst- und Naturaliensammlung der Franckeschen Stiftungen nach Halle zu senden. Angesichts des dichten Geflechts verwundert es kaum, dass die Sammlung - die als vermutlich letzte komplett erhaltene Wunderkammer des Barock anzusehen ist - mongolische und tibetische Handschriften beherbergt.

Nach fast drei Jahrhunderten im Schrank Q XVI, dem so genannten Schriftenschrank, rückten sie vor 18 Monaten ins Blickfeld von Heike Link, Mitarbeiterin des Stiftungsarchivs. Für ihr Anliegen, die Schriften und Textproben in ihrem Inhalt, ihrer Vielfalt und Spezifik zu erschließen, fand sie 30 Kilometer weiter, quasi vor der Haustür, offene Ohren. Oder, wie Per Kjeld Sørensen sagen würde, "gutlaunige" Experten. Es ist nicht so, dass der Däne als Lehrstuhlinhaber und Direktor des Instituts für Indologie und Zentralasienwissenschaften der Universität Leipzig und sein Kollege Dr. Klaus Koppe nicht anderweitig ausgelastet wären - Sørensen steckt mitten im Aufbau der Nationalbibliothek von Bhutan, Koppe liegt mit seiner Publikation großer mongolischer Heldenepen in den letzten Zügen. Aber die Anfrage aus Halle/S. weckte in den beiden Leipziger Gelehrten die Neugier und Spannung. Was wohl würden die Texte hergeben?

Die Antwort zu den vier mongolischen Schriftstücken kommt aus einem Munde: "Das ist eine Entdeckung." Dr. Koppe, Spezialist für die Mongolica, erläutert: In Deutschland gibt es in Archiven, Bibliotheken und Sammlungen annähernd 900 Handschriften dieses Typs. Unter ihnen galt bislang ein westmongolisches Manuskript aus dem frühen 17. Jahrhundert, das in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel verwahrt wird, als wertvollste Rarität: es ist sowohl die erste nach Deutschland gebrachte Handschrift dieser Art als auch die älteste mongolische Handschrift, die es in Deutschland gibt.

Dr. Koppes Analyse wird diese Aussage verändern. Bei einem der von ihm begutachteten Texte handelt es sich um eine mongolische Prachtschrift. Sie besteht aus vier Blättern, ihr geistlicher (buddhistischer) Text ist auf dunklem, fast schwarzem Papier in Goldschrift niedergelegt. Die Prachtschrift weist augenfällige Parallelen zur Wolfenbütteler Handschrift auf, die ebenfalls in Goldschrift auf dunklem, hier blauem, Grund verfasst ist. Sowohl die äußere Form, Größe und Abmessung der Textblätter als auch der verwendete Schrifttypus sprechen bei beiden Schriftstücken für die westmongolisch-oiratische Provenienz. Die Ähnlichkeiten legen für Dr. Koppe den Schluß nahe, dass beide aus einem Fundort stammen - aus dem Kloster Ablai Keyid, gelegen am Irtysch. Und beide Schriften entstanden vor dem Gebrauch der so genannten "Klaren Schrift", die der Oberlama der Dsungarei, Jaya Pandita, anno 1648 für die Oiraten, das heißt für die westmongolischen Ethnien, schuf.

Der russische Zar hatte bereits 1718 und 1720 befohlen, alte Schriften für die kaiserliche Bibliothek zu sammeln, worauf die ersten mongolischen und tibetischen Handschriften aus dem zerstörten Kloster Ablai Keyid nach St. Petersburg gebracht wurden. Dem Beispiel Peter des Großen folgten nicht nur russische Fürsten und Gelehrte, sondern auch deutsche. So stammt das Wolfenbütteler Manuskript aus dem Besitz des Hildesheimer Polyhistors Jakob Friedrich Reimann, der es wiederum von Andreas Ernst von Stambke erwarb, der als Holsteinischer Gesandter am Petersburger Hof (1723/24) Zugang zu den aus der russisch-mongolischen Grenzregion in die Hauptstadt des Zarenreiches verbrachten Schriften hatte.

Ebenso wie das Wolfenbütteler Manuskript lässt sich die Übersendung des Hallensers auf das Jahr 1725 datieren. Eine handschriftliche Notiz besagt "geschickt am 9. Febr. 1725". Absender war Pastor Vieroth, der Baron Nicolaus Hallart und General in Diensten des Zaren als Hausprediger nach St. Petersburg begleitet hatte. Hier hatte Vieroth Kontakt mit einem tatarischen Fürstensohn; zugleich wird berichtet, dass schwedische Offiziere aus ihrer sibirischen Gefangenschaft verschiedenste Schriftproben nach St. Petersburg brachten. Auf welchem dieser Wege Vieroth in den Besitz "seiner" Schriften gelangte, lässt sich heute nicht mehr erhellen. Die Kataloge der Franckeschen Schriftenkammer geben nur bedingt Auskunft.

"Ich denke", merkt Prof. Sørensen zur Spurensuche und ihren Ergebnissen an, "bei dem Hallenser Fund handelt es sich gemeinsam mit dem von Wolfenbüttel um die ältesten mongolischen Handschriften, die nach Deutschland gelangt sind." Und diese 1725 nach Deutschland gebrachten Schriften - zu denen nun auch die mongolischen Manuskripte der Franckeschen Stiftungen zählen - stehen für den Beginn der Beschäftigung mit den mongolischen Völkerschaften und ihrer Kultur. Auf dem Weg von Ablai Keyid über Tobolsk und St. Petersburg nach Halle/S. und Leipzig schließt sich der Kreis zu August Hermann Francke, der für "die Anfänge unserer Wissenschaftsdisziplin" steht, wie Prof. Sørensen und Dr. Koppe übereinstimmen.

Schon 1687 hatte sich Francke, dazumal Dozent in Leipzig, mit Zentralasien befasst - es wird berichtet, er habe für den chinesischen Kaiser eine Rechenmaschine konstruiert. Zehn Jahren nach seiner Berufung nach Halle/S. gründete er 1702 das "Collegium orientale theologicum", wo neben Polnisch, Russisch und "Slawonisch", auch Arabisch, Syrisch, Äthiopisch, Hebräisch und Chaldäisch gelehrt wurde. 300 Jahre später schließt sich der Kreis mit der spannenden und überraschenden Entdeckung im Franckeschen Erbe. "Vieles hält man in der Wissenschaft für abgegrast. In unserem Fachgebiet ist das Gott sei dank nicht so." Prof. Per Kjeld Sørensen und Dr. Klaus Koppe sind sich einig: "Auch das ist eine Entdeckung."

Die wird bis zum 30. Juni durch eine Kabinettausstellung in den Franckeschen Stiftungen gewürdigt. "Darin nehmen die Schriften Dr. Koppes und Prof. Sørensens einen zentralen Platz ein", benennt Heike Link den Wert der Leipziger Studien. "An ihren Arbeiten wird in einem historisch nachempfundenen Studierzimmer die Forschungsgeschichte aufgezeigt."

Die Kabinettausstellung "Zeichen und Wunder. Die Geheimnisse des Schriftenschrankes" in den Räumen vor der Kunst- und Naturaliensammlung ist bis zum 30. Juni 2002 geöffnet (Di. bis So., 10:00 bis 17:00 Uhr).

Internet:
www.francke-halle.de