Pressemitteilung 2002/040 vom

Wer als Wissenschaftler ins Land des Donnerdrachens möchte, braucht das Vertrauen der königlichen Familie und der Regierung. Ansonsten bleibt ihm der Zutritt nach Bhutan, dem kleinen Königreich zwischen China im Norden und Indien im Süden, verschlossen.

Per Kjeld Sørensen, Däne mit Professur für Indologie und Zentralasienwissenschaften an der Universität Leipzig, hat den Schlüssel zum grünen Hochland im Herzen des Himalaja gefunden: Gemeinsam mit der 1967 gegründeten Nationalbibliothek Bhutans arbeitet er daran, das literarische Erbe - größtes Kulturgut des Landes - zu erschließen.

Etwa 100.000 alte Schriften gibt es in Bhutan, eines der weltweit letzten Refugien des Mahajana-Buddhismus. Um das Register für die bis zu 900 Jahre alten Schriften und Bücher, die zumeist mehrere Titel bzw. Bände umfassen, aufzubauen, leisten die Universität Leipzig und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (Bad Honnef) zum einen wissenschaftliche Unterstützung und zum anderen technische Hilfe. "Vor unserer Ankunft", erläutert Sørensen, "gab es keine Übersicht über Umfang und Inhalt des literarischen Erbes von Bhutan." Seit sechs Jahren läuft das Projekt, sechs weitere sind geplant. Es ist Halbzeit.

Der erste Impuls zur "Institutionellen Stärkung der Nationalbibliothek von Bhutan" ging 1996 von Dänemark, Sørensens Heimat, aus. Wie die Schweiz oder Österreich orientiert sich der skandinavische Staat in seiner Entwicklungshilfe auf Staaten und Länder vergleichbarer Größe. Bhutan mit knapp einer Million Einwohner und einer Fläche von 47.000 Quadratkilometern unterscheidet sich zwar in vielen Bereichen von der konstitutionellen Monarchie im Norden Europas. Aber das Verhältnis zu den umliegenden Ländern ist für beide ähnlich: Sowohl Bhutan als auch Dänemark zählen in ihrer jeweiligen Region zu den kleineren Staaten, deren Identität sich vor allem auf die Wahrung und Behauptung der eigenen Stärken gründet.

Als das Außenministerium Dänemarks über die Königliche Bibliothek Kopenhagen 1996 den ersten Kontakt nach Bhutan aufnahm, gab es keinerlei Übersicht über Umfang und Inhalt der bhutanischen Schriften. Per Kjeld Sørensen, ausgewiesener Experte für Tibetologie und Indologie, war für die dänischen Institutionen der erste Ansprechpartner. Das blieb auch so, als Sørensen im selben Jahr seine Professur für Indologie und Zentralasienwissenschaften an der Universität Leipzig antrat. Der Start des Vorhabens vor sechs Jahren "fiel gerade in eine Phase, wo man noch kurz zuvor vielerorts technisches Know-how falsch angesiedelt hatte", so Sørensen. Im Gegensatz dazu ist "das Projekt als Hilfe zur Selbsthilfe angelegt", schildert Sørensen den dänischen Standpunkt. Der knüpft an die heutige, gängige Auffassung der UNESCO an: Kultur ist Entwicklung und Entwicklungshilfe muss, so sie wirksam sein will und soll, vor Ort kulturell eingebunden werden. Dieser Idee öffnete sich das abgeschiedene Bhutan. Der Forscher und sein Anliegen stießen auf das wohlwollende Interesse des Königshauses.

Für die Datenbank stützt sich Sørensen auf das UNESCO-System CDS/ISIS. Bewusst, denn das Textretrievalsystem eignet sich besonders für die Erstellung umfangreicher Bibliographien und stellt zugleich nur minimale Anforderungen an die Hardware. Auf der Basis von CDS/ISIS entwickelten Bhutans Nationalbibliothek, Gregor Verhufen, Tibetologe und Computerexperte an der Universität Bonn, sowie Sørensen einen Katalog, der der Annotation des überlieferten Schriftgutes und der einheimischen Sprache Dzongkha gerecht wird. Inzwischen sind 60.000 der 100.000 vorhandenen Schriften inclusive der Unterbände erfasst, nach Sørensens Meinung "die vollständigste und detaillierteste Datenbank auf diesem Gebiet". Die traditionellen Bücher sind, anders als europäische Bücher, nicht gebunden. Sie fügen sich aus längs übereinander gelegten Papierstreifen zusammen, die akkurat zwischen zwei hölzerne Buchdeckel geklemmt und zudem von Tüchern umhüllt sind. Geschrieben und gelesen wird von rechts nach links, gedruckte Bücher entstehen im Blockdruck.

Die 40.000 Schriften mit ihren 200.000 Bänden, die in der Nationalbibliothek der Hauptstadt Thimphu und in größeren Ortschaften lagern, haben Sørensen und die bhutanischen Bibliothekare weitgehend aufgenommen. Forscher und Leser können nun gezielt nach Kriterien wie Datum, Autor, Thema, Umfang, Standort und sogar nach den Kosten für den Erwerb einer Schrift bzw. eines Buches suchen. Vor der CDS/ISIS-Erfassung dauerte es manchmal einen ganzen Tag, ehe ein bestimmtes Werk in den Regalen der Nationalbibliothek gefunden war. Verfasser, Titel und Erscheinungsjahr zu entschlüsseln, erwies sich oft genug als schier unüberwindbare Hürde. Die Datenbank eröffnet somit den Zugang zu Art und Umfang des schriftlichen Erbes - und das in einer bislang unvorstellbaren Genauigkeit.

Minyak Tulku Rinpoche, einer der bekanntesten bhutanischen Mönchsgelehrten und einer der ersten Mitarbeiter des Leipziger Professors, nimmt heute die Position des Direktors der Nationalbibliothek ein. Jetzt gehen sie - im Sinne des Wortes - die nächste Etappe an, reisen in die über 1.500 Klöster und Tempel des Landes, um die dortigen Schriften - von denen bisher niemand außerhalb der religiösen Zentren weiß - zu erfassen. Das geschieht zweifach: Zum einen werden die Schriften gescannt und fotografiert, um sie als digitale Kopie in die Nationalbibliothek nach Thimphu zu bringen; zum anderen werden sie nach den Kriterien der Datenbank gespeichert und registriert. Das Problem dabei umreißt Goembo Tshering, der die Feldstudien in Bhutan leitet: "Wir müssen vor Ort im Kloster entscheiden, welche der ungeheuer vielen Handschriften wir auswählen und kopieren wollen." Per Kjeld Sørensen schätzt, dass es etwa 20 Jahre dauern wird, die im Lande verstreuten Schriften endgültig zu erfassen. Eine Aufgabe, die Bhutan, das für das laufende Projekt elf Mitarbeiter stellt und insgesamt 33 Bibliothekare beschäftigt, in sechs Jahren allein leisten kann und wird. "In Zukunft hat Bhutan einen vollständigen Überblick über seine eigene, riesige Kultur, die vorwiegend eine Schriftkultur ist", beschreibt Sørensen das Ziel.

Schon jetzt lassen sich erste Aussagen über das Schriftgut Bhutans, das von buddhistischen Mönchen geschaffen wurde, treffen. Die "unglaubliche Fülle" (Sørensen) lässt sich grundlegend in religiöse, wissenschaftliche und historische Texte gliedern. Wobei Wissenschaft in bhutanischem Zusammenhang immer durch Religion geprägt ist. Während sich die religiösen Texte philosophischen, doktrinären, rituellen, devotionellen und esoterischen Themen zuwenden, ist die wissenschaftliche Literatur auf praktische Bedürfnisse der Heil- und Pflanzenkunde ausgerichtet. Die historischen Schriften wiederum nehmen sich der Geschichte der Klöster und der Heiligen, von Orten und Mythen an. "Die ganze Vergangenheit des Landes steckt in dieser Literatur." Eine Vergangenheit, die ohne aussagekräftige Bibliographie nicht zu entschlüsseln wäre und in den farbigen Stoffhüllen verborgen bliebe.

Per Kjeld Sørensen verknüpft mit seiner Arbeit in Bhutan zwei Hoffnungen: dass das kleine Königreich seine Identität und seine Erbe zwischen Internet und Buddhismus bewahrt und dass er eines Tages eine Gruppe seiner besten Studenten von Leipzig nach Thimphu mitnehmen kann. Noch ist der Professor der weltweit einzige Forscher, der überall im Land reisen darf.