Pressemitteilung 2002/200 vom

Der Leipziger Rechtswissenschaftler Roman Schmidt-Radefeldt forscht im Grenzgebiet verschiedener Rechtsbereiche und schreibt eine Habilitation über die demokratische Kontrolle integrierter Streitkräfte.

Ein Stück Neuland zu entdecken, ist bei der Suche nach einem Forschungsthema selbstverständliche Forderung. Doch so gänzlich ohne Vorgänger zu sein, das geschieht einem Wissenschaftler auch nicht alle Tage. Gute Chancen auf solch einen seltenen Moment haben jene, die sich an die Schnittstelle verschiedener Bereiche begeben - so wie Dr. Roman Schmidt-Radefeldt, der sein Neuland zwischen Verfassungs-, Völker-, Europa- und Wehrrecht gefunden hat. Dort, wo sich diese Disziplinen überschneiden, liegt das Feld des Leipziger Juristen: "Die demokratische Kontrolle integrierter Streitkräfte".

Ein Arbeitstitel. Wie könnte es anders sein bei einer Habilitation. Und doch: Neun Monate vor dem letzten Punkt hat er das Zeug zum Titel. Erwägungen wie "Staatliche Streitkräfte zwischen nationaler und internationaler Einbindung" und "Staatliche Streitkräfte im multinationalen Integrationsprozeß" gingen der jetzigen Formulierung voraus - beide eingeholt vom Fortgang der Studien, beide überholt von der Vertiefung des Themas hin zur entscheidenden Frage: Wie werden Probleme gelöst, die beim Zusammenwirken verschiedener nationaler Streitkräfte in einer europäischen Armee entstehen? Wie werden Probleme gelöst, die beim Zusammentreffen verschiedener nationaler Wehrrechte in einer europäischen Armee entstehen?

Der Blick auf die Bundeswehr erhellt die Frage. Mit ihrer Gründung verbinden sich zwei grundlegende Prinzipien, skizziert Dr. Schmidt-Radefeldt den Ausgangspunkt seiner Untersuchung: Das eine ist die Konstitutionalisierung, das andere die Internationalisierung der Streitkräfte - zum einen wurde die Bundeswehr in das Verfassungsgefüge eingebunden; zum anderen in den Nordatlantikpakt (Nato). Sowohl die politische als auch die militärische Bindung wurden mit Absicht eingesetzt: Von Deutschland, in diesem Falle von der Bundesrepublik, sollte mittels der Verankerung der Streitkräfte innerhalb der nationalen Gesellschaft und innerhalb der internationalen Gemeinschaft nie wieder im Alleingang ein Krieg ausgehen.

Konkret bedeutete dies aus nationaler Perspektive: Die Bundeswehr wurde der Kontrolle des Parlaments unterstellt - der Minister für Verteidigung hatte die Befehls- und Kommandogewalt inne, dem Bundestag wurde die Zustimmung zu militärischen Einsätzen übertragen, und ein Instrument wie der Wehrbeauftragte des Bundestages garantierte die Grundrechte des "Bürgers in Uniform". Und aus internationaler Sicht war die Bundeswehr für sich genommen während des Kalten Krieges nicht einsatzfähig - ohne Führungsstrukturen, ohne Generalstab konnte sie nur als Teil der Nato und nur unter dem Kommando der Nato operieren.

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts veränderte sich die europäische und die weltweite Situation: Die Nato wandelte sich von einem kollektiven Verteidigungsbündnis zu einer Organisation, die sich mit Krisenprävention und -management konfrontiert sah. Und in Folge des 11. September dürfte der Nordatlantikpakt auf Initiative der USA seine Ausrichtung erneut wechseln - hin zu einer Anti-Terror-Koalition. Für die europäischen Nato-Partner wie auch für die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft leitet sich aus der veränderten Konstellation eine Anforderung ab: Die Idee eines europäischen Verteidigungsbündnisses, die im Schatten der Nato in den 50er Jahren "eingeschlafen" war, neu zu wecken - mit dem Ziel als Europäische Union (EU) außen- und verteidigungspolitisch handlungsfähig zu sein. So orientieren sich die Staaten der EU seit Beginn der 90er Jahre und parallel zur Umgestaltung der Nato verstärkt auf eine militärische Integration. Trägt die Nato auch künftig den Part der kollektiven Verteidigung, so werden gemeinsame europäische Streitkräfte die Krisenbewältigung innerhalb Europas übernehmen. Damit gewinnt die EU eine militärische Handlungsfähigkeit und -aktivität, die es ihr erlaubt, regionale Konflikte zu lösen.

Vor diesem Hintergrund haben sich im letzten Jahrzehnt entscheidende Entwicklungen vollzogen. Im Rahmen der EU wurde ein militärischer Stab für Krisenmanagement gebildet; für 2003 wird die Bildung der europäischen Krisenreaktionsstreitkräfte in einer Stärke von 60.000 Mann vorbereitet; und zwischen den einzelnen Staaten der EU, einschließlich potentieller Mitglieder, sind bereits bi- und multinationale Korps entstanden - sie stellen den Grundstock der gemeinsamen Streitmacht.

In diesem - skizzenhaft entworfenen - Szenario bewegt sich Dr. Schmidt-Radefeldt mit seinen Forschungen. Ein Szenario, das auf den ersten Blick auf eine europäische Armee zu zu führen scheint. Aber: "Rechtlich gesehen ist das nicht so." Dr. Schmidt-Radefeldt begründet seinen Einwand: "Es gibt rechtliche Mechanismen, die gewährleisten, dass Entscheidungen in den jeweiligen nationalen Verteidigungsministerien getroffen werden." Das hat zur Folge, dass die gemeinsame Armee der EU-Staaten "integrierter und europäischer sein wird als in Zeiten des Kalten Krieges oder gar im 19. Jahrhundert; aber es wird nicht soweit kommen, dass die Nationalstaaten ihre Hoheitsrechte aufgeben und an eine europäische Gewalt übertragen. Das", merkt Dr. Schmidt-Radefeldt an, "sehe ich in absehbarer Zeit nicht." So wie auch mittelfristig nicht beabsichtigt ist, die EU in einen Superstaat umzuwandeln.

Somit erhellt der zweite Blick auf das Szenario ein Spannungsfeld: Wie ist das Verhältnis zwischen nationaler Rückbindung und europäischer Einbindung? Wie vertragen sich die nationale Hoheit über die Streitkräfte und das Konsensprinzip der EU? Fragen, die durch divergierende außenpolitische Prämissen der EU-Staaten, durch unterschiedliche Militärtraditionen, durch nationales Wehrrecht und nicht zuletzt durch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Konstitutionalisierung nicht gerade einfacher zu klären sind. Und weiter ist zu fragen, wie diese Unterschiedlichkeiten miteinander zu vereinen sind und wie sich unter diesen Voraussetzungen die Effektivität und Effizienz gemeinsamer europäischer Streitkräfte sichern lässt?

Letztlich bilden die Unterschiede und die durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten den Ausgangspunkt, um den kleinsten gemeinsamen Nenner und darauf aufbauend einen Konsens für ein europäisches Wehrrechtssystem zu finden. Ebensowenig wie die politische und wirtschaftliche Integration der EU wird sich die militärische binnen Jahresfrist bewältigen lassen. Aus deutscher Sicht geht es vor allem darum, die demokratischen Kontrollmechanismen, denen die Bundeswehr unterliegt, nicht aufzugeben. "Die dürfen nicht auf dem Altar der Integration geopfert werden." Beschwerde- und Mitwirkungsrechte stehen dem deutschen Soldaten zu - gleich, ob er in einer Leipziger Kaserne oder bei der Deutsch-Französischen Brigade stationiert ist. In der gemeinsamen Stube prallen dann jedoch unterschiedliche Wehrkulturen aufeinander. Ein französischer Soldat kann sich nicht an einen Wehrbeauftragten wenden; und seinem Einsatz stimmt nicht das französische Parlament zu (oder lehnt ihn ab), sondern den befiehlt der Generalstab.

Die "hohe Kunst" bei der Abwägung der nationalen Rechtsordnungen und der nationalen militärischen Kulturen besteht nach Einschätzung von Dr. Schmidt-Radefeldt darin, national verbriefte Rechte zu wahren, ohne in den gemeinsamen Korps ein Zwei-Klassen-Recht zu provozieren. Die Schwierigkeit: Die Krisenreaktionsstreitkräfte müssen effektiv funktionieren - sie sollen ihrem Namen auch gerecht werden.

Ein Konsens ist gefragt, der nationale Rechte und zugleich die Handlungsfähigkeit der europäischen Armee sichert. Wie dieser Konsens aussieht, ob und welche nationalen Instrumente und Mechanismen erhalten, ausgeschlossen oder transformiert werden, darüber muss in der jetzigen Situation beraten und entschieden werden. Der erste Schritt, die Schaffung der politischen und militärischen Strukturen einer gemeinsamen Armee, steht ein Jahr vor der Bildung der Krisenreaktionsstreitkräfte kurz vor dem Abschluss. Danach steht als zweiter Schritt die Klärung der Frage der demokratischen Kontrolle an. "Man wird nicht umhin kommen, gemeinsame Normen zu finden".

Die Diskussion um diese gemeinsamen Regeln ist bislang bei Politik und Militär angesiedelt; allmählich erst greift das Thema auf die akademische Ebene über. Dr. Roman Schmidt-Radefeldt von der Universität Leipzig hat sich der Aufgabe angenommen, das Spannungsfeld zwischen militärischer Effizienz und demokratischer Kontrolle rechtswissenschaftlich auszuloten - im Kontakt zum Referat Völkerrecht im Verteidigungsministerium und anderen "Betroffenen" und im zeitlich-räumlichen Abstand vom aktuellen politischen Entscheidungsdruck.