Pressemitteilung 2020/092 vom

In Zeiten der Corona-Krise sind auch Eltern besonders gefordert. Viele von ihnen sind im Homeoffice und müssen parallel dafür sorgen, dass das "Homeschooling" ihrer Kinder funktioniert. Lernpsychologe Prof. Dr. Henrik Saalbach (45) vom Institut für Bildungswissenschaften der Universität Leipzig gibt im nachfolgenden Interview nützliche Hinweise zur Herangehensweise an diese für alle neue Situation sowie einem guten Maß an Schularbeit und äußert sich zum derzeit viel diskutierten Thema Abschlussprüfungen.

Wie sollten Familien in diesen Zeiten den Alltag zu Hause organisieren? Inwieweit sollten Eltern "Ersatzlehrer" sein?

Ganz wichtig ist es, dass Eltern ihren Kindern den Alltag strukturieren. Das heißt konkret, bestimmte Zeiträume als „Lernzeit“ definieren. Ja nach Alter der Kinder kann die Länge dieser Zeit variieren. Empfehlenswert ist es sicher, gerade für die jüngeren Kinder, diese Zeit nicht zu sehr in die Länge zu ziehen. Bei Grundschülern wären sicher zwei bis maximal drei Stunden einschließlich Pausen völlig ausreichend. Die meisten Kinder haben von ihren Schulen Aufgaben oder einen Wochenplan erhalten. Daran können sich die Kinder gut orientieren. Eltern sollten diesen Prozess organisieren und die strukturierte Bearbeitung der Aufgaben ermöglichen und können natürlich auch für Fragen und Feedback zu Verfügung stehen. Feedback ist übrigens eine der effektivsten Lehr-Lern-Methoden. Dabei ist es nicht nur wichtig, den Kindern und Jugendlichen eine Rückmeldung zur Korrektheit der Lösung, zum Lösungsweg und zur Selbstorganisation des Lernens zu geben, sondern auch die nachfolgenden Übungen entsprechend anzupassen. Idealerweise könnten das nach wie vor die Lehrpersonen übernehmen. Hierfür setzen manche Schulen bereits ihre eLearning-Möglichkeiten effektiv ein. Aber auch ohne digitale Lernplattformen könnten Lehrpersonen, etwa durch Nutzung von Videochats, ihren Schülern gezielt Feedback geben.  

Wie viel Schule zu Hause ist gut? Was sollten Schüler dabei unbedingt beachten?

Wie gesagt: Es ist sicher gut, einen begrenzten Zeitraum als Lernzeit zu definieren, in dem dann die Aufgabe aus der Schule bearbeitet werden sollten. Es ist klar, dass sich der Aufgabenumfang und auch die Qualität, der Freiheitsgrad bei der Bearbeitung und die Unterstützungssysteme der Schulen und Lehrkräfte sehr stark unterscheiden. In der Sekundarstufe, mit einer Reihe unterschiedlicher Fachlehrkräfte kann dies durchaus dazu führen, dass Verwirrung und Überforderung bei den Schülerinnen und Schülern entstehen. Ich empfehle deshalb auch, einen Organisationsrahmen zu finden, zum Beispiel in Tabellen und Diagrammen, in denen die unterschiedlichen Arbeitspensen wochenweise eingetragen werden, so dass die Schülerinnen und Schüler ihr selbstorganisiertes Lernen strukturieren. Außerhalb dieser Lernzeit können sich die Kinder dann aber weiterhin mit anregenden Inhalten beschäftigen, etwa mittels der vielfältigen medialen Angebote, die etwa in der entsprechenden Rubrik der Mediatheken von ARD und ZDF zu finden sind. Hier können die Kinder ja nach Interesse entscheiden. Wichtig ist es aber, dass die Eltern nach einem Beitrag beziehungsweise nach einer Sendung mit dem Kind ins Gespräch über die Inhalte kommen. Auch die Medienzeit, sollte nicht zu lange geplant werden. Kindern sollten neben der Lern- und Medienzeit auch noch ausreichend Zeit für freies Spiel und Bewegung im Freien (im Rahmen der aktuellen Regeln zur Ausgangsbeschränkung) zur Verfügung stehen.

Sollten Eltern neuen Unterrichtsstoff einführen, wie es offenbar einige praktizieren? Welche Alternativen gibt es?

Davon würde ich in jedem Fall abraten. Die Schulen beziehungsweise die Lehrpersonen geben durch Aufgaben, Wochenpläne und andere Materialien eine gute Orientierung. Viele Schulen haben bereits Rückmeldesysteme an Schülerinnen und Schüler sowie Eltern eingeführt, in denen sie wochenweise den Umfang der Bearbeitungszeiten, den Unterstützungsbedarf seitens der Eltern und die Motivation der Schülerinnen und Schüler abfragen und neue Aufgaben und Arbeitsaufträge entsprechend anpassen. Zudem gibt es selbstverständlich seitens der Lehrkräfte die Möglichkeit, beispielsweise Tutorials selbst aufzunehmen und an die Klasse zu versenden, auf qualitative Unterstützungssysteme im Netz hinzuweisen oder persönliche Feedbackrunden und Sprechstunden umzusetzen. Die Eltern sollten den Lernprozess strukturieren und damit die Umsetzung der Lernziele unterstützen. Das ist bereits Herausforderung genug. Bei Interesse und Bereitschaft der Kinder können natürlich die verschiedenen Inhalte, etwa durch Lektüre und mediale Angebote, vertieft werden.

Wie können Eltern ihre Kinder zu Hause motivieren, strukturiert etwas für die Schule zu tun?

Wie bereits oben erwähnt, empfehle ich die Definition einer „Kernlernzeit“ für die Aufgaben der Schule und einer „erweiterten Lernzeit“ für interessegeleiteten medialer Vertiefung oder Erweiterung. Wichtig ist, die Einrichtung und Gestaltung mit den Kindern und Jugendlichen zu besprechen und ihnen auch die Entscheidungen zu übertragen, mit welchen der Themen beziehungsweise Aufgaben sie sich in der Lernzeit beschäftigen. Klar ist, dass das meiste erledigt werden sollte, aber in welcher Reihenfolge, kann man getrost den Kindern überlassen. Es ist völlig in Ordnung, wenn sie sich an einem Tag nur mit Mathematik und an einem anderen Tag nur mit Deutsch beschäftigen. Zudem ist es natürlich auch wichtig, dass Pausen eingelegt werden. Auch über den Zeitpunkt der Pausen könnten die Kinder entscheiden. Nur wäre es dann wichtig, den Eltern mitzuteilen, wenn sie in die Pause gehen. Zudem ist es natürlich essentiell, dass Kinder an einem eigenen Schreibtisch sitzen, der nach Möglichkeit nicht mit Spielzeug vollgebaut ist. Zudem sollten die möglichen Quellen der Ablenkung sowohl im Kinderzimmer als auch in der gesamten Wohnung so weit wie möglich minimiert werden. Also etwa kein laufendes TV-Gerät oder am PC spielende Geschwisterkinder. Die Motivation von Kindern, sich über längere Zeiträume mit Lerninhalten selbständig zu beschäftigen, kann selbstverständlich variieren. Deshalb kann es durchaus sinnvoll sein, mit Kindern gemeinsam an einzelnen Aufgaben zu arbeiten, sich Ergebnisse vorstellen zu lassen oder für Rückfragen zur Verfügung zu stehen. Auch andere, in der Familie etablierte Anreizsysteme, wie das gemeinsame Spiel, Lesen oder Freizeitbeschäftigungen sollten in der Struktur des Tages einen Stellenwert behalten.

Mit Blick auf die Zehnt- und Zwölftklässler, die kurz vor den Prüfungen stehen: Wie viel Homeschooling geht, um überhaupt noch Prüfungen ansetzen zu können? Sollten die Prüfungen aus Ihrer Sicht modifiziert oder gar verschoben werden?

Das ist eine schwierige Frage, weil ja auch bestimmte Prüfungen Voraussetzungen für die weitere Bildungskarriere sind. Daher sind politische Entscheidungen notwendig, um Klarheit vor allem für die Schülerinnen und Schüler zu schaffen und ihnen damit auch entsprechende Sorgen zu nehmen. In jedem Fall ist eine Prüfungssituation schon unter normalen Bedingungen eine Ausnahmesituation für Jugendliche. Für eine erfolgreiche Prüfungsleistung ist es enorm wichtig, dass sowohl in der Vorbereitungsphase als auch in der Prüfungssituation selbst die volle Konzentration verfügbar ist. Sobald Ängste und Sorgen hinzukommen, steht weniger Gedächtniskapazität für das Lernen und den Abruf des Wissens zur Verfügung. Daher kann ich aus psychologischer Sicht feststellen, dass Jugendliche in der aktuellen Situation bereits Nachteile in Prüfungen hätten, selbst wenn diese irgendwie stattfinden würden. Zudem fehlt natürlich die zielgerichtete Vorbereitung, die häufig noch im Unterricht Platz gefunden hätte.  

Weitere Informationen umter: https://www.lernentrotzcorona.ch/Lernentrotzcorona.

Hinweis:

Prof. Dr. Henrik Saalbach ist einer von mehr als 150 Experten der Universität Leipzig, auf deren Fachwissen Sie mithilfe unseres Expertendienstes zurückgreifen können.