Pressemitteilung 2002/157 vom

Traumkultur im antiken Mesopotamien: Die Leipziger Altorientalistin Dr. Annette Zgoll forscht und schreibt über die "weltweit ältesten in schriftlicher Form erhaltenen Träume". Sie legte jetzt ihre Habilitationsschrift vor.

Gudea, Herrscher über die mesopotamische Stadt Lagasch, träumte: Von einem Mann, riesig wie die Erde und riesig wie der Himmel. Sein Kopf glich dem eines Gottes, seine Arme denen eines Gewittervogels, sein Unterkörper einer Flut. Rechts und links des Mannes hatten sich Löwen niedergelassen. Der Mann befiehlt dem Träumer, ihm sein Haus zu bauen. Gudea erwacht. Er geht in den Tempel, um sich seinen Traum von einer Göttin, konkret heißt das wohl von einer Priesterin, deuten zu lassen. Ihr berichtet er seinen Traum und schließt mit den Worten: "Von dem, was der Traum mir gebracht hat - das 'Herz' davon habe ich nicht erkannt!" Seine Worte zeigen: Der innerste Kern, die Botschaft seines Traumes ist Gudea noch verborgen. Nun löst ihm die Priesterin seinen Traum: Den Mann, den du gesehen hast, das ist der Gott deiner Stadt, Nin-Girsu. Ihm zu Ehren sollst du einen Tempel bauen. Das Licht, das dir vom Horizont empor kam, ist dein persönlicher Schutzgott, Nin-gisch-zida. Er ist dir erschienen und er wird dir bei deinem Vorhaben beistehen.

Und so geschieht es: Gudea, Herrscher über die mesopotamische Stadt Lagasch, baut dem Gott seiner Stadt eine gewaltige Tempelanlage.

In dieser Weise ist der Traum des Gudea überliefert. Dass wir von ihm wissen, ist der Erfindung der Schrift zu danken. Um 3000 v. Chr. begannen die Kundigen des Zweistromlandes, Schriftzeichen mit Griffeln in feuchte Tontafeln zu drücken. So geschehen auch im 22./21. Jahrhundert vor Christus mit der Zylinderinschrift des Gudea von Lagasch, einem der längsten Werke der sumerischen Literatur. Zu Zeiten Gudeas stapelten sich die Tontafeln, von der Sonne getrocknet, bereits in Bibliotheken und Archiven - in Palästen, Tempeln, Villen. Zuhauf haben sie die Jahrtausende überdauert. Im heutigen Irak, Syrien, der Türkei finden sich Berge von Tontafeln, oft beschädigt oder zerbrochen, in ihrem Gehalt jedoch weitgehend unzerstört. Für Altorientalisten wie Privatdozentin Dr. Annette Zgoll, die derzeit an der Universität Leipzig forscht und lehrt, bieten die "weltweit ältesten in schriftlicher Form erhaltenen Träume" eine faszinierende und aussagekräftige Basis. Fachkollegen aus der Ägyptologie oder der Klassischen Philologie haben teils weniger Glück: Ägypter und Griechen schrieben oft auf Papyrus - dankbarer Fraß jeden Feuers.

Der Vorgang, den Gudea in seiner Hymne beschreibt, zerfällt grundlegend in zwei Teile: In das Erzählen und in das Deuten des Traums - zwei Fassungen, die sich auf ein nächtliches Ereignis beziehen. Zwar literarisch gefiltert, aber in ihrer Differenzierung ein "schönes Beispiel" für die "nächtlichen Wege der Erkenntnis im antiken Mesopotamien". Bislang gibt es wenige historische Studien zum Thema "Traum und Träumen". "Die Kulturgeschichte des Träumens ist erst im Entstehen", sagt Dr. Annette Zgoll. Mit ihrer Habilitation "Traum und Welterleben im antiken Mesopotamien" lässt die Altorientalistin aus Leipzig einen Mosaikstein aus den ältesten Quellen wieder glänzen.

Den Anstoß erfuhr Dr. Zgoll 1995. Während eines interdisziplinären, alttestamentlich-altorientalistischen Seminars zu Träumen vermisste sie eine aktuelle Studie über mesopotamische Träume - die junge Wissenschaftlerin wollte die über 40 Jahre klaffende Lücke füllen. Die bis dato einzige Monographie über altorientalische Träume, "The Interpretation of Dreams in the Ancient Near East. With a Translation of an Assyrian Dream-Book", hatte A. Leo Oppenheim 1956 in den USA vorgelegt. Sie vermittelt einen "ersten guten Gesamtblick über Mesopotamien sowie einige Facetten Griechenlands und Ägyptens", so Dr. Zgoll. Doch seither hatten Ausgrabungen neues Quellenmaterial zu Tage gefördert; zudem hat sich das Verständnis sowohl der sumerischen als auch der babylonisch-assyrischen Sprachen verfeinert - ein umfassendere und tiefergehende Studie war notwendig geworden.

Zu den neu verfügbaren Quellen gehören Alltagstexte wie Briefe und Urkunden, Texte über den Umgang mit Träumen wie Rituale und Omina sowie literarische Erzählungen und Hymnen. Um die Quellen 4.000 Jahre nach ihrer Entstehung zu erschließen, entwickelte Dr. Zgoll ein eigenes methodisches Instrumentarium. In diesem verknüpfte sie ihre akribische philologische Quellenarbeit einschließlich der Systematisierung der verschiedenen Redeweisen vom Träumen mit der modernen Traumforschung in den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Ethnologie.

Im Ergebnis verflechten sich Dr. Zgolls Erkenntnisse zu einem vollkommen neuen Bild der Traumkultur des antiken Mesopotamiens. Ein Beispiel: War Oppenheim zu dem Schluß gekommen, die Menschen des antiken Orients hätten in anderer Art und Weise geträumt als wir heute - unter anderem in Form langer Monologe -, so kommt Dr. Annette Zgoll zu dem Fazit, dass die Menschen Mesopotamiens nicht anders träumten, sondern Träume anders verstanden als die Menschen hier und heute. "In den Augen der Mesopotamier sind Träume Erfahrungsräume, in denen die Menschen den Göttern begegnen." Sie beschreibt diese Eigenart mit dem Begriff "Außentraum". Ausgehend von der mesopotamischen Sicht auf das Wachleben - es sind die Götter, die über die Geschichte entscheiden - empfinden die Menschen ihre Träume als "Einblick in eine Welt, die noch viel bedeutungsvoller ist als das Leben der Tagwelt". Sumerer und Akkader verstehen ihre Träume als Fenster in die Welt ihrer Götter; im Traum erleben sie ihre Götter als Traumsender. Die Traumdeutung erschließt ihnen den Ratschluß der Götter, sie erklärt deren Wege und Absichten.

Doch nicht jeder Traum ist gleich bedeutungsvoll. Ob überhaupt und wenn ja, welches Vorzeichen in einem Traum liegt, erschließt sich erst in der Traumdeutung. Dafür gibt es mehrere Wege: Zum Beispiel deuten bzw. lösen Experten, in der sumerischen Frühzeit sind es meist Frauen, den Traum; mit ihren Erfahrungen und Methoden entschlüsseln sie die Botschaft, das "Herz" des Traumes. Ein Traum kann schon deshalb unwichtig sein, weil er in der ersten Hälfte der Nacht gesehen wurde. Oder die Menschen rufen Mittler-Gottheiten an, so die Götter der Gestirne, die den Wunsch nach einem Ein-Blick in die Zukunft jenen Göttern vorbringen sollen, die Entscheidungen über die Zukunft fällen; den Ein-Blick wiederum sollen diese Botengötter dann im Traum verkünden. Oder sie wenden sich der Astrologie oder der Astronomie zu. Die Vielfalt der Niederschriften von Träumen erweist sich (ebenso wie die Vielfalt der Quellen) für Dr. Annette Zgoll als Vorteil: So kann sie die Charakteristika mesopotamischer Traumwahrnehmung aus verschiedenen Perspektiven erhellen.

Das göttlich Gesagte akzeptierten die Menschen des Alten Orient als Gestaltungsmittel ihres Lebens - gleich, ob sie selbst die Träumer sind oder auf göttliche Weisung zum Umkreis des Träumers zählen. Um einen Tempel zu bauen, bedarf es unzähliger Bauleute... Was geträumt wird, ist nicht Angelegenheit des Einzelnen, sondern berührt und betrifft die gesamte Gemeinschaft. Die Botschaften der Götter im Traum wurden ernst genommen, da sie Zugang zum göttlichen Wissen über den Lauf der Welt zuließen.

Im Vergleich zum Heute waren die Vorstellungen der mesopotamischen Gesellschaft vom Traum und vom Träumen "komplett anders": Träume waren vom Menschen unabhängig. Sie wurden durch Götter von außen gesteuert. Sie galten als personale Begegnung zwischen Mensch und Gott. In ihnen ließ die Gottheit den Menschen an ihren auf die Zukunft gerichteten Beschlüssen teilhaben.