Pressemitteilung 2002/092 vom

Untersuchungen an der Fruchtfliege Drosophila - 300 Millionen Jahre Genfusion - Forschung über die Evolution der Gliederfüßer - Ein Beispiel konstruktiv-neutraler Evolution

Kaum ein Gebiet der Naturwissenschaften hat in jüngerer Vergangenheit für mehr positive Schlagzeilen gesorgt als die Genforschung, wenngleich ihre Resultate mitunter kontrovers diskutiert wurden. Ohne sie kommt z. B. in der Arzneimittelentwicklung und -herstellung heute niemand mehr aus. Forschungsgegenstand der Genetik ist neben der Entschlüsselung der Erbsubstanz die Funktionsanalyse der Genprodukte, also der Proteine (Eiweiße). Anhand von Vergleichen dieser Eiweiße zwischen verschiedenen Tier- oder Pflanzenarten können zudem evolutionäre Prozesse untersucht werden. Als Untersuchungsobjekt dient dabei häufig das klassische Versuchstier der Genetik, die Taufliege Drosophila melanogaster. Dieses Insekt wird aufgrund der relativ einfachen Strukturierung seiner Erbsubstanz und der dabei verhältnismäßig hohen Komplexität des Organismus genutzt. Unter Vorbehalt können sogar Parallelen zum Menschen gezogen werden, wie im Fall von Nervenerkrankungen, bei denen die Fliegen vergleichbare Symptome wie erkrankte Menschen aufweisen.

Am Leipziger Bereich für Mikrobiologie und Genetik (Leitung: Professor Heinz Sass) forscht die Arbeitsgruppe von Dr. Veiko Krauß zur Funktion und Evolution von Chromatingenen, das sind Gene, die für die an Chromosomen bindenden Eiweiße kodieren. Diese Chromatinproteine sind an der Verpackung der DNA und an deren Regulation beteiligt. Chromatin, die mikroskopische sichtbare Form der Erbsubstanz, weist je nach Chromosomenbereich verschiedene Strukturen auf, welche auf jeweils unterschiedliche Chromatinproteine zurückzuführen sind. Durch Verlagerungen dieser strukturbestimmenden Chromatinproteine in andere Chromosomenabschnitte kann sich die Aktivität der dort betroffenen Gene verändern. Oft ist eine Inaktivierung dieser Gene infolge solcher Chromatinveränderungen zu beobachten. Diese genaktivitätsverändernden Vorgänge können durch Mutationen in anderen Genen, welche für Chromatinproteine kodieren, ausgelöst werden. Ein solches Gen, zu finden in allen höheren Lebewesen, ist Su(var)3-9. Das vom Su(var)3-9-Gen kodierte Su(var)3-9-Protein verändert die Verpackung der DNA und fürt zur Inaktivierung der Gene in all jenen Chromosomenbereichen, an die es bindet. Das Su(var)3-9-Gen wurde zuerst in der Taufliege entdeckt, wo es ungewöhnlicherweise mit einem zweiten Gen namens eIF2gamma fusioniert ist.

Die Leipziger Wissenschaftler haben anhand der Untersuchung der Genstruktur beider Gene in einer Anzahl von Gliederfüßerarten (Insekten, Krebse, Vielfüßer, Spinnen) herausgefunden, dass diese strukturelle Fusion zweier funktionell völlig verschiedener Gene nur bei holometabolen Insekten (das sind alle Insekten, die ein Verpuppungsstadium durchlaufen) vorkommt. Diese Fusion ist also entsprechend dem fossil belegten Alter dieser Tiergruppe bereits vor 300 Millionen Jahren erfolgt.

Eine solche Genverschmelzung ist nach bisheriger Kenntnis angesichts der völlig unterschiedlichen Funktion beider Genprodukte etwas Besonderes. Sie kann deshalb nicht durch Selektion begünstigt worden sein, sondern stellt ein zufälliges, in dieser Art und Weise einmaliges Ereignis dar. Diese Genfusion beweist, das auch die zufällige Variation ohne dirigierenden Einfluß der Selektion in der Lage ist, neuartige Gene entstehen zu lassen (neutral-konstruktive Evolution). Da das Su(var)3-9-Gen im Zuge seines Einbaus in das eIF2gamma-Gen Elemente seiner eigenen Struktur verloren hat, ist eine evolutionäre Rücknahme dieser Fusion noch unwahrscheinlicher als ihre Entstehung, d.h., das Su(var)3-9-Gen befindet sich in einer Art genomischer Falle.

Die Arbeitsgruppe um Dr. V. Krauß interessiert sich daher auch für den Zusammenhang zwischen den genetischen Strukturen von Su(var)3-9 und eIF2gamma (mit oder ohne Fusion) und der natürlichen Verwandtschaft der Klassen und Ordnungen der Gliederfüßer. Besonderes Augenmerk gilt daneben den funktionellen Konsequenzen der Verschmelzung von Teilen der Proteinstruktur von eIF2gamma und Su(var)3-9. Möglicherweise konnten durch die Fusion auch neue Funktionen dieser Proteine entstehen. Dies wird derzeit mittels transgener Fliegen überprüft. Die Taufliege Drosophila erweist sich damit einmal mehr als Mittel zur Erkenntnis wesentlicher Zusammenhänge, diesmal zwischen der Art und Weise der Genomevolution und der davon abhängigen Veränderung von Proteinen.