Angesichts der hohen Opferzahlen von 35.000 toten Menschen in Gaza, darunter eine sehr hohe Zahl Kinder und Frauen sowie die gezielte Zerstörung von Krankenhäusern, Bildungs- und Kultureinrichtungen und ziviler Infrastruktur, liegen nach Ansicht Wieses Verstöße gegen die Grundsätze des humanitären Völkerrechts nahe. „Letztlich hängt die finale Bewertung aber vom spezifischen Einzelfall ab“, erklärte die Expertin. Aber von einem Genozid werde nur gesprochen, wenn der Täter die Absicht hat, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise auszulöschen. Die Zerstörungsabsicht, also das subjektive Element, sei in der Regel sehr schwer nachweisbar.
Wiese hält es nach eigenen Worten für „sehr wahrscheinlich“, dass der Haftbefehl gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ausgestellt wird, weil sehr viele Beweise vorlägen. „Allerdings geht es hier nicht um den Vorwurf des Genozids, sondern um andere Völkerstraftaten: Kriegsverbrechen wie das Aushungern der Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegsführung, vorsätzliche Tötungen und grausame Behandlungen, vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, betonte die Expertin. Sollte der Internationale Strafgerichtshof den Haftbefehl erlassen, seien aus rechtlicher Sicht alle 124 Staaten, die sich dessen Gerichtsbarkeit unterworfen haben – darunter Deutschland – daran gebunden. „Das bedeutet, dass Deutschland den Premier festnehmen und nach Den Haag, dem Sitz des IStGH, ausliefern müsste, wenn er nach Deutschland reist“, erläuterte die Völkerrechtlerin.
Das ausführliche Interview mit Lisa Wiese ist im Leipziger Universitätsmagazin nachzulesen.