Herr Prof. Gersdorf, wie schätzen Sie das Urteil der Bundesverfassungsrichter ein?
Dieses Urteil ist fundamental, weil es die Menschenwürde aus Sicht des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt – und zwar unabhängig von gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Normen. Jeder Einzelne ist Herr über sich selbst. Es muss nur sichergestellt werden, dass der Wille des Betreffenden, aus dem Leben zu scheiden, autonom und nicht dem Druck aus der Gesellschaft oder dem persönlichen Umfeld geschuldet ist. Der Einzelne entscheidet, ob sein Leben lebenswürdig ist oder nicht, und nicht der Staat oder die Gesellschaft.
Welche Folgen könnte dieses Urteil noch haben?
Das heutige Urteil betrifft bislang nur den Paragrafen 217 des Strafgesetzbuches. Jeder Mensch, der selbstbestimmt aus dem Leben scheiden möchte, kann dies tun. Und auch diejenigen, die den todbringenden Cocktail beschaffen, werden nicht bestraft. Aber über den Paragrafen 216 wurde noch nicht entschieden. Er besagt, dass die Tötung auf Verlangen strafbar ist. Das heißt, wenn jemand nicht mehr selbst in der Lage ist, sich die todbringende Spritze zu setzen und einen Dritten darum bittet, macht dieser sich bisher noch strafbar. Ich wage die These, dass nicht nur der Paragraf 217, sondern auch der 216 – die Tötung auf Verlangen – verfassungswidrig ist. Dieser war bislang nicht Gegenstand der Verhandlung.
Wer müsste die Änderung vornehmen?
Ich hoffe, dass der Gesetzgeber die nun anstehende Neuregelung des Paragrafen 217 zum Anlass nimmt, auch den Paragrafen 216 neu zu definieren. Es gibt ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das hat der Staat zu respektieren – unabhängig davon, ob die Gesellschaft anderer Ansicht ist.
Hinweis:
Prof. Dr. Hubertus Gersdorf ist einer von mehr als 150 Expertinnen und Experten der Universität Leipzig, auf deren Fachwissen Sie mithilfe unseres Expertendienstes zurückgreifen können.