Pressemitteilung 1999/015 vom

Wissenschaftler des Paul-Flechsig-Institutes der Universität Leipzig, Prof. Dr. Andreas Reichenbach und Dipl.-Biol. Jens Grosche, haben im Rahmen der Arbeiten des Interdisziplinären Zentrums für Klinische Forschung eine wichtige Grundlage für das Verständnis von Lernvorgängen gelegt: Es gelang Ihnen, winzige Struktureinheiten von Bergmann-Gliazellen zu beschreiben und dreidimensional zu rekonstruieren.

Im Labor wurde die Rekordzahl von 450 (!) aufeinanderfolgenden Schnitten durch ein Kleinhirn, jeder dünner als ein zehntausendstel Millimeter, im Elektronenmikroskop fotografiert und mit einem Computerprogramm ausgewertet.

Die fadenförmigen Fortsätze der nach ihrem Entdecker benannten Bergmann-Gliazellen im Kleinhirn sind mit den neubeschriebenen komplexen Seitenzweigen (Mikromodulen) besetzt, die bestimmte Synapsen umhüllen. Synapsen sind die Informationsübertragungsstellen im Gehirn, die als Fortsätze der Nervenzellen (Neuronen) von Gliazellen umgeben sind. Es ist noch nicht so lange her, dass man nur diesen Synapsen und den Neuronen Funktionen im Gehirn zugesprochen hat. Erst relativ spät hat man erkannt, dass auch die "Hüllen" der Neuronen und Synapsen, die Gliazellen (die vorher mehr oder weniger als "Müllbeseitiger" betrachtet wurden), wichtige Funktionen im komplizierten Beziehungsgefüge des Gehirns wahrnehmen.

Das haben Wissenschaftler des Paul-Flechsig-Instituts gemeinsam mit Kollegen aus der Arbeitsgruppe von Prof. H. Kettenmann am Max-Delbrück-Centrum für Moleculare Medizin (Berlin) frühzeitig erkannt und erforscht.

Neueste Erkenntnis der zwei Arbeitsgruppen ist: Sobald an von Bergmann-Glia-Zellen eingehüllten Synapsen eine Informationsübertragung stattfindet, werden im Inneren der "Mikromodule" Signalmoleküle freigesetzt. Diese Signalmoleküle regulieren wiederum die Eigenschaften der Mikromodule, und damit auch jede weitere Informationsübertragung an den umhüllten Synapsen des Kleinhirns. Wiederholte Informationsübertragung an bestimmten Synapsen beeinflußt die zukünftige Funktion genau dieser Synapsen, aber nicht die von anderen. D.h., wenn ich eine komplizierte Körperbewegung immer wieder trainiere, beherrsche ich nach einiger Zeit genau diese Körperbewegung. Andere Bewegungen werden nicht automatisch auch beherrscht, da dafür andere Synapsen zuständig sind, die wiederum von anderen Mikromodulen der Gliazellen umhüllt sind, die nicht mit trainiert werden. Wer also schreiben lernt, kann deshalb noch lange nicht zeichnen oder Klavierspielen. Man ist den Lernvorgängen auf der Spur!

Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass erfolgreiche Informationsverarbeitung ein korrektes Zusammenspiel zwischen den Nervenzellen (Neuronen) und ihren Partnern, den Gliazellen, voraussetzt. Obwohl das menschliche Gehirn mehr Gliazellen als Neuronen besitzt und obwohl Erkrankungen des Gehirns, auch die meisten Tumoren, von den Gliazellen ausgehen, ist nach wie vor über diese Zellen und ihre Zusammenarbeit mit den Nervenzellen sehr wenig bekannt. Niemand hatte bisher vermutet, dass diese Zellen punktgenau die Tätigkeit einzelner Synapsen beeinflussen könnten. Das erkannt zu haben, darin besteht ein großes Verdienst der Leipziger Hirnforscher und ihrer Berliner Partner: Die Entdeckung der Mikromodule der Bergmann-Gliazellen kommt einer kleinen Revolution auf dem Gebiet der Hirnforschung gleich. Die internationale Anerkennung für die Leipziger Forscher blieb natürlich nicht aus: Sie erhielten die Möglichkeit, ihre Forschungsergebnisse in der international renommierten Zeitschrift "Nature (Neuroscience)" mit einer Abbildung der neubeschriebenen Glia-Mikromodule auf dem Titelblatt darzustellen. Für die Wissenschaftler ist eine Veröffentlichung in dieser elitären Zeitschrift mit dem Erfolg eines Sportlers bei den Olympischen Spielen vergleichbar!