Pressemitteilung 2000/022 vom

Die Gliazelle, neben der Nervenzelle die zweite Zellart im Gehirn, ist nach Ansicht von Prof. Dr. Andreas Reichenbach vom Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung zu Unrecht lange von der Forschung vernachlässigt worden.

Ursprünglich lediglich als "Kitt" angesehen, der die Nervenzellen zusammenhält, erfüllt sie für die Neuronen jedoch wichtige Funktionen: Wenn die Gliazellen ausfallen, hören die Nervenzellen auf, zu funktionieren, erläutert Reichenbach, der das Zusammenspiel von Nerven- und Gliazelle erforscht.

Seine Untersuchungen hat er unter anderem an der Netzhaut des Auges vorgenommen, die laut Reichenbach ein "Modellsystem des Gehirns" ist, da sie im Embryo aus demselben Gewebe wie das Gehirn, als Ausstülpung der Gehirnanlage, entsteht. Die Gliazelle der Netzhaut, "Müllersche Gliazelle" genannt, sei praktisch eine "Ammenzelle", fand er heraus. Sie versorge die Nervenzellen nicht nur mit Nährstoffen, sondern schütze sie auch vor besonders angriffslustigen Molekülen (freien Radikalen). Ferner kontrolliere sie den Extrazellularraum, d. h. den kleinen, mit Flüssigkeit gefüllten Raum zwischen den Zellen, durch den jedes Molekül beim Stoffaustausch zwischen den Zellen hindurch muss.

Für die korrekte Übertragung der Signale in den Synapsen zwischen den Nervenzellen ist die Gliazelle nach Ansicht Reichenbachs ebenfalls zuständig. Anhand der sog. Bergmann-Glia im Kleinhirn konnte er zusammen mit Kollegen - auch vom Berliner Max-Delbrück-Centrum - zeigen, dass kleine Gruppen von Synapsen mit spezialisierten Gliazellfortsätzen in lebhaftem Informationsaustausch stehen. In der Nähe jener Synapsen, die chemische Botenstoffe (Transmitter) ausschütten, steigt in diesen "zugehörigen" Gliazellfortsätzen die Kalziumionen- (Ca2+ -)Konzentration an. Für den Neurophysiologen Reichenbach ist dies ein Zeichen dafür, dass dort die Gliazellen den Botenstoff so schnell wie möglich as dem synaptischen Spalt entfernen und recyceln. Die Folge: Der Botenstoff kann nicht an eine benachbarte Synapse diffundieren, das Signal werde also nicht verwässert und unscharf. Außerdem ist damit der synaptische Spalt schnell wieder frei für das nächste eintreffende Signal.

Wenn eine Synapse besonders häufig aktiv ist, sollen die Kalzium-Signale im zugehörigen Gliazellfortsatz dazu führen, dass diese Synapse zukünftig besonders effektiv in ihrer Funktion unterstützt wird: Das könnte eine wichtige Grundlage des Lernens sein, erklärt Reichenbach. Nicht benutzte Synapsen dagegen werden von den Gliazellen abgebaut. Welchen spezifischen Anteil die Gliazellen an den verschiedenen Formen von degenerativen Veränderungen im Gehirn haben, werde derzeit intensiv erforscht.